Parallel zum wirtschaftlichen Boom erfreute sich Röhm & Haas eines enormen Imagegewinns, sowohl in Deutschland als auch auf internationalem Terrain. Auf der Pariser Weltausstellung 1937 heimste Plexiglas den Grand Prix und die Goldmedaille ein (Röhm & Haas 1938, 28 und Wittig 2007, 42). Der Lorbeer galt nicht der militärischen Nutzung, sondern dem ästhetischen Potenzial (Röhm & Haas 1938, 3: „Klar wie Kristall“), mithin der Eignung als Werkstoff für die anspruchsvoll-spektakuläre Gestaltung von Alltagsgegenständen, das sogenannte Kunstgewerbe:
- Möbeldesign: Auf der Pariser Weltausstellung machten Gartensessel mit einer fließend gebogenen, grün eingefärbten Acrylglasplatte als Sitzfläche Furore, geschaffen von den beiden französischen Architekten Jean Prouvé (1901-1984) und Jacques André (1904-1985) (siehe Buchholz 2007, 22, 26 und 38-39). Zwei Jahre später, auf der Weltausstellung in New York, zeigte Grosfeld House seine „Glassic“-Möbelkollektion, die dem US-amerikanischen Designer Lorin Jackson (1908-1987) in Auftrag gegeben worden war (Buchholz 2007, 19). Seine Hocker, Coffee Table oder Stühle mit Rückenlehne aus Acrylglas sind heute gesuchte Designklassiker. Das Material lieferte der 1909 gegründete US-Ableger von Röhm & Haas, mittlerweile Rohm and Haas Company, Inc. in Philadelphia, die Otto Röhms Kompagnon Otto Haas (1872-1960) allein leitete. Die Vorgeschichte:
„Die US-Regierung beschlagnahmte (im Kriegsjahr, Red.) 1917 entschädigungslos die Beteiligung Otto Röhms an der amerikanischen Tochtergesellschaft. Otto Haas durfte seine Anteile behalten, weil er inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden war. Er gründete daraufhin die eigenständige Rohm and Haas Company, an deren Ertrag er Otto Röhm über Jahre hinweg persönlich großzügig beteiligte. So war aus der deutschen Niederlassung in den USA ein amerikanisches, selbstständiges Unternehmen geworden. Zugleich blieb Otto Haas Mitbesitzer des Darmstädter Unternehmens Röhm & Haas OHG. Die beiden Unternehmen arbeiteten noch viele Jahre sehr eng und zum gegenseitigen Nutzen zusammen.“ (Wittig 2007, 17)
Die Politik der Nationalsozialisten in Deutschland und der Zweite Weltkrieg dividierten die beiden Unternehmen dann vollends auseinander:
„Die Kunststoff-Forschung in Darmstadt war sowohl durch Otto Röhm persönlich als auch – zu einem geringeren Teil – durch Firma Rohm and Haas in Philadelphia gefördert worden. Deshalb, aber auch aufgrund des Vertrages zur gegenseitigen Zusammenarbeit aus dem Jahr 1927, erhielt Philadelphia 1934/35 gegen Lizenzgebühren die Nutzungsrechte für sämtliche monomeren wie polymeren Acrylat- und Methacrylat-Verfahren und deren Produkte. Durch rechtliche Einschränkungen, insbesondere des Reichsluftfahrtministeriums, konnte Röhm & Haas seiner Informationspflicht gegenüber den amerikanischen Partnern ab Ende 1937 jedoch nicht mehr nachkommen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges brachen die Kontakte gänzlich ab.“ (Wittig 2007, 42)
- Modedesign: Damenhandtaschen aus Celluloid mit Acrylglasdeckel waren in den 1940er-Jahren der letzte Schrei in den USA und „verström(t)en [...] einen ähnlichen magischen Reiz wie gläserne Pantoffeln aus der Märchenwelt“ (Buchholz 2007, 19 u. 34-35).
- Schmuckdesign: „An geschliffenen Stellen leuchtet Plexiglas wie Edelstein“, pries Röhm & Haas 1938, 8 sein Produkt für „Schmuckstücke und modische Kleinigkeiten, wie Armreifen und Halsketten, Broschen, Spangen und Schnallen, Ringe, Knöpfe und Fantasie-Figuren“ an. Buchholz 2007, 19 attestiert dem neuen Kunststoff in diesem Zusammenhang eine „zauberische Aura“. Zur Beliebtheit trug die geringe Wärmeleitfähigkeit von Acrylglas bei, das sich auf der Haut weniger kalt anfühlt als Metall oder herkömmliches Glas (Röhm & Haas 1938, 9).
- Musikinstrumentenbau: In der bereits erwähnten Berliner Ausstellung „Deutschland“ sorgte im Sommer 1936 nicht zuletzt eine „gläserne Geige“ für Aufsehen (Trommsdorff 1976, 239). Auf die Idee, Musikinstrumente aus Plexiglas herzustellen, war Otto Röhm höchstpersönlich gekommen und hielt ab dem 28. April 1935 sogar ein Patent als Erfinder darauf (DRP 649388). Unter der Überschrift „Ganz oder zum Teil aus Kunstharz bestehendes Musikinstrument“ heißt es:
„Mit dem allgemeinen Vorschlag der Verwendung plastischer Massen oder synthetischer Harze und der Aufzählung einiger wünschenswerter Eigenschaften hat das Problem der Herstellung von Musikinstrumenten aus Kunstharzen eine technisch brauchbare Lösung nicht gefunden. Der Erfinder hat nun gefunden, daß unter den Tausenden bekannter Kunstharze eine kleine Gruppe, nämlich Polymethacrylsäuremethylester, Polymethacrylsäureäthylester und Mischungen oder Mischpolymerisate beider besteht, welche alle guten Eigenschaften, die für den Bau von Klangkörpern von Musikinstrumenten erforderlich sind, in sich vereinigen und dabei frei sind von störenden anderen Eigenschaften und Nebenwirkungen. [...] Die Erfindung gestattet die Herstellung von Blasinstrumenten wie Flöten, Streichinstrumenten, wie Geigen, und anderen Instrumenten, z. B. von Zithern. Alle erfindungsgemäß hergestellten Instrumente zeichnen sich durch Klanggüte, praktische Unzerbrechlichkeit, Unveränderlickeit, auch in feuchter Atmosphäre, Tropenfestigkeit und andere wertvolle Eigenschaften aus.“
Trommsdorff 1976, 239 relativiert: „Die Streichinstrumente waren wegen des relativ niedrigen Elastizitätsmoduls von Plexiglas nur für Kammermusik geeignet [...]. Flöten und Klarinetten daraus waren jedoch aus Holz oder Metall bestehenden im Klang durchaus gleichwertig und wurden auch von Militärkapellen benutzt.“ Einen vollständigen Satz von Acrylglas-Blasinstrumenten entwickelte die Traditionsfirma Mönnig in Markneukirchen/Vogtland (Buchholz 2007, 18). „Mit durchschlagendem Erfolg präsentiert Röhm & Haas die Verwendung von PMMA im Instrumentenbau schließlich 1937 auf der Pariser Weltausstellung.“ (Buchholz 2007, 18) Und wenn Otto Röhm in den Jahren vor dem Kriegsausbruch in Berlin zu tun hatte, stieg er mit Vorliebe im Hotel Eden am Zoo ab, auf dessen Dachgarten ein Plexiglas-Streichquartett – zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello – musizierte (Edschmid 1957, 63, Trommsdorff 1976, 239 und Buchholz 2007, 18).
- Glaskunst und Bildhauerei: Acrylglas ließ sich ähnlich wie Elfenbein „als Schnitzmaterial für kunstgewerbliche Gegenstände“ verwenden (Trommsdorff 1976, 238; siehe auch Trommsdorff 1937, 10). Überdies war es radierfähig: „Mit einem rotierenden Fräswerkzeug werden Ornamente und Figuren in das Plexiglas geschnitten.“ (Röhm & Haas 1938, 19) Um die künstlerische Bearbeitung zu fördern, richtete Otto Röhm im Unternehmen 1937 eigens ein Atelier ein, das „Neue Darmstädter Glaskunst“ benannt war (Trommsdorff 1976, 238) und Kreativen Raum für beeindruckende Schöpfungen gab. Als Plexiglaskünstler hervorzuheben sind die Darmstädter Malerin Meta Deutsch (1891-1989), der Darmstädter Maler und Bildhauer Walter Cauer (1905-1995) und der Schweizer Maler Ernst Georg Haller (1902-1980), der u. a. farbige Plexiglasscheiben zu Kirchenfenstern verschweißte (Trommsdorff 1976, 238). Insbesondere Deutschs Plexiglasradierungen – Blumen, Tiere, Porträts, Sinnbilder – kamen gut an, ein wirtschaftlicher Erfolg blieb der „Neuen Darmstädter Glaskunst“ aber versagt (Trommsdorff 1976, 239). Übrigens: Der Firmenchef selbst stand Modell, um in Plexiglas verewigt zu werden. O. E. Weber schuf aus einem farbigen PMMA-Block eine lebensgroße Skulptur von Röhms Kopf, obwohl die Nazis ihm verboten hatten, sich als Künstler zu betätigen, weil er einen jüdischen Großvater hatte … Mit seinem Auftrag an Weber setzte sich Otto Röhm bewusst über dieses Verbot hinweg (Trommsdorff 1976, 239).
- Automobilbau: Acrylglas verschaffte als Glasersatz eine ungeahnte „Konstruktionsfreiheit in der Formung windschlüpfriger Stromlinienaufbauten“ sowie „zylindrisch oder sphärisch gebogener Scheiben“ (Röhm & Haas 1938, 16). In der Praxis waren diese meist Luxuslimousinen oder Sonderanfertigungen wie den Weltrekordwagen von Mercedes-Benz und der Auto-Union vorbehalten (Röhm & Haas 1938, 13), die heute als Design-Highlights in Museen zu bewundern sind. Eindruck machten überdies plexigläserne Karosserieteile wie Dach, Motorhaube oder Kofferraum, die freie Sicht ins Wageninnere gewährten, wie es beim Opel Olympia der Fall war, der auf der Internationalen Automobil- und Motorrad-Ausstellung vom 20. Februar bis 7. März 1937 in Berlin gezeigt wurde: „Die Autoliebhaber sollten so die neue selbsttragende Karosserie genau begutachten können. Üblicherweise bestanden Autos jener Zeit nämlich aus einem stabilen Chassis mit Rahmen, auf das die Karosserie aufgesetzt wurde. Beim Opel Olympia dagegen waren die Karosseriegrundstruktur und der Rahmen des Chassis zu einem fachwerkähnlichen, selbsttragenden Stahlgerippe verbunden.“ (Vaupel 2011, 28)
Der Clou: „Mit Plexiglas wurde die Black Box ‚Motor‘ in gewisser Weise geöffnet und transparent gemacht.“ (Vaupel 2011, 29) Für die Internationale Automobil- und Motorrad-Ausstellung vom 18. Februar bis 6. März 1938 in Berlin ließ die Schraubenfabrik Bauer & Schaurte aus Neuss einen „kristallenen“ Opel-Olympia-Motor in Originalgröße anfertigen, „um zu demonstrieren, wie viele Stahlschrauben damals üblicherweise in einem Motor verbaut wurden. Die rheinische Firma wollte Reklame für eine neue, von ihr entwickelte Schraube machen, die sehr viel leichter als ihre Vorläufermodelle war. Der Blick in den plexigläsernen Motor sollte zeigen, wie viel Gewicht durch die Verwendung der neuen Schrauben eingespart wurde – rund 26 Kilogramm!“ (Vaupel 2011, 29)
Transparenz bedeutete auch unbehinderten „Einblick in Arbeitsvorgänge“ (Röhm & Haas 1938, 7), die bisher im Verborgenen stattfanden und deren Mechanismus nun augenfällig wurde (Röhm & Haas 1938, 22). Der „Kristall-Motor“ von Bauer & Schaurte war jedenfalls betriebsfähig; „Bewegungen der Kolben, Ventile und Zahnräder konnten durch das Plexiglas hindurch beobachtet werden“ (Vaupel 2011, 29). Die Zündfolge eines Vierzylinder-Viertakt-Ottomotors veranschaulichte auf der Berliner Ausstellung ein zweiter „gläserner Motor“, nämlich jener des neuen Wanderer-Automobils W 23 von der Auto Union AG in Chemnitz: „Dank verschiedenfarbiger Lämpchen konnte der Besucher das Ansaugen, Verdichten und Zünden des Benzins und schließlich das Ausströmen des Abgases aus dem Auspuff mitverfolgen, den Weg des Kühlwassers beobachten und sehen, wie eine Kupplung funktioniert.“ (Vaupel 2011, 29) Für die Nazis ein gefundenes Fressen, sich als treibende Kraft des Fortschritts zu inszenieren: Hitler ließ sich bei seinem Besuch der Automobilausstellung vor den „gläsernen“ Motoren fotografieren (Vaupel 2011, 28-29).
Zu den Schauobjekten aus Plexiglas, die damals für Lehr- oder Werbezwecke geeignet waren, gehörten selbstverständlich nicht nur Autos, sonden u. a. auch eine Schreibmaschine mit durchsichtigem Gehäuse oder ein transparenter Wasserkocher, bei dem man die Heizspiralen im Topfboden wahrnehmen konnte (Vaupel 2011, 27 u. 29). Ideologisch überhöht wurde das Ganze noch auf den großen Propagandaausstellungen, mit denen das NS-Regime die Schaffenskraft von Volk, Staat und Wirtschaft feierte: Auf der Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ von Mai bis Oktober 1937 in Düsseldorf, die über sechs Millionen Besucher anzog, war im Henkel-Pavillon eine radierte Plexiglas-Weltkugel zu sehen (Röhm & Haas 1938, 25) bzw. nicht zu übersehen. Und auf der Hygiene-Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ vom 24. September bis 6. November 1938 in Berlin vermittelten die transparenten Modelle, „dass jedes lebende Organ, jedes technische Bauteil, jede Abteilung eines Unternehmens und jede Unterstruktur eines komplexen Staatsapparates eine genau definierte Funktion hat und dass nur durch das geordnete Zusammenspiel aller Einzelteile großartige Leistungen zustande kommen“ (Vaupel 2011, 31).