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Brüder im Geiste: Kunst & Kunststoff

Allen Vorurteilen zum Trotz: Zwischen Kunst und Kunststoff stimmt die Chemie! Die Verwendung synthetischer Materialien macht Kunstwerke nicht „unecht“. Der Vorwurf der Künstlichkeit geht fehl, denn er liefe auf die zweifelhafte Forderung hinaus, Kunst habe „natürlich“ zu sein. Die Historie belehrt eines Besseren: Kunst befindet sich zur Natur von Anfang an auf Distanz und höhlt deren Autorität nach und nach aus. Kommt in der Moderne Plastik ins Spiel, wird die Kunst vordergründig zwar „künstlicher“, aber deswegen nicht weniger künstlerisch – die Natur erlangt ihre verlorene Autorität nicht zurück.

Während die Kunsttheorie oft noch mit dem sogenannten Künstlichen ringt (Apropos K: Kunst und Künstlichkeit), hat die künstlerische Praxis, insbesondere die Bildhauerei, die Integration längst vollzogen. Kunststoffskulpturen und Kunststoffplastiken – Nomen est omen! – erlebten in den 1960er-Jahren einen wahren Boom. Die historischen Anfänge aber liegen weiter zurück:

Schon im Jahre 1916 schuf der russische Bildhauer Naum Gabo (1890-1977) in seiner Wahlheimatstadt Paris den Tête No. 2 (Kopf Nr. 2) eine kubistisch beeinflusste Skulptur aus Rhodoid (Zellulose-Azetat, seinerzeit vorwiegend für Billardkugeln verwendet). Der Kunstgeschichte gilt dieses Ereignis als Premiere – erstmals kam Kunststoff als Material künstlerischer Gestaltung zum Einsatz (Plastik-Parade).

Zu Rhodoid gesellte sich in der Kunst wenig später Zelluloid, das allerdings leicht in Brand gerät – man denke zurück an die Anfänge des Kinos, als Zelluloidfilm in Flammen aufging, sobald es im Projektor zu heiß wurde (Quelle: Filmmuseum Hamburg).

Transparente Kunststoffe bieten neue Möglichkeiten
Ende der 1920er-Jahre stand auch Polymethylmethacrylat (PMMA) zur Verfügung, besser bekannt unter seinen Handelsnamen Plexiglas, Lucite oder Perspex. Die Transparenz des neuen Materials eröffnete den bildenden Künsten ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten: Lichtoszillationen, die Kunstbetrachter gewöhnlich ignorieren, womöglich sogar als störend empfinden, wurden nun Teil des Kunstwerks beziehungsweise entgrenzten es in die Tiefe des Raums. Eine Entwicklung, die Gabo und Antoine Pevsner (1884-1962) bereits am 5. August 1920 in ihrem „Realistischen Manifest“ vorweggenommen hatten:

Die beiden Brüder erklärten das Licht und seine Bewegung im leeren Raum zu neuen Mitteln der Bildhauerei und forderten den Verzicht auf die etablierten Werkstoffe. Das Manifest markiert den Beginn einer Traditionslinie, die sich über László Moholy-Nagy (1895-1946), den in den 1920er-Jahren am Weimarer Bauhaus lehrenden Konstruktivisten und seinen Space Modulator“ (1939) bis in die Gegenwart verfolgen lässt (Link zu Zeittafel) – etwa zu den deutschen Künstlern Adolf Luther (1912-1990, sphärische Hohlspiegelobjekte), Heinz Mack (geb. 1931, luminokinetische Kunst) oder Uli Pohl (geb. 1935, lichtplastische Skulpturen).

Kunststoff - idealer Werkstoff für die Künste
Gründe, als Künstler mit Kunststoff zu arbeiten, gibt es reichlich, zunächst einmal ganz pragmatische – diesseits von Wirkungsintention und spirituellem Überbau. Kunststoff fügt sich nahezu allen technischen und ästhetischen Anforderungen. Seine Wandlungsfähigkeit und Vielseitigkeit erweitern die künstlerischen Gestaltunsgmöglichkeiten immens, machen ihn geradezu zum Universalmaterial: Er ist biegsamer als Glas, geschmeidiger als Wolle und vermag Holz, Stein, Marmor oder Metalle täuschend zu imitieren und mithin zu ersetzen. Künstler geben Kunststoff zum einen aus Kostengründen häufig den Vorzug, denn Plastik ist nun mal wesentlich billiger als etwa Bronze. Zum anderen ziehen natürliche Werkstoffe immer dann den Kürzeren, wenn die Kunst ins Monumentale strebt, denn mit federleichtem Kunststoff ergeben sich – anders als bei Marmor oder Metall – keine gravierenden „Gewichtsprobleme“.

Auch die weltberühmten Nanas, hünenhaft-korpulente, bunt bemalte Frauenskulpturen der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle (1930-2002), hätten ohne den Gewichtsvorteil, den Polyester ihnen verschafft, wohl kaum solche Verbreitung gefunden. Allerdings war das auch schon alles, was Saint Phalle zur Verwendung von Kunststoff bewog: „Der Aspekt des Kunststoffs um seiner selbst willen oder sein ‚moderner‘ Charakter interessieren mich überhaupt nicht. Ich bemale ihn, und die Leute wissen nicht, was für ein Material es ist. Das Material zählt für mich nicht, es ist ein Mittel“, bekannte sie freimütig (Was Künstler über Kunststoff sagen...). Auch für die lebensecht wirkenden Menschenskulpturen, die US-Bildhauer Duane Hanson (1925-1996) ab den späten 1960er-Jahren als Repräsentanten des American Way of Life mithilfe von Gipsabdrücken (und: Gipsabdrücke II) schuf, spielt eine untergeordnete Rolle, dass mal Polyvinylacetat, mal Polyesterharz die Grundsubstanz bildete. Sie ist nämlich stets überdeckt von Kleidung, Farbe und Schminke. Ästhetische Eigenqualitäten des Kunststoffs kommen nicht zum Tragen, er ist reduziert auf reine Zwecktauglichkeit.

Das Gros der Künstler ließ und lässt sich hingegen auf die neuartigen Materialien ein: „Kunststoffe müssen nicht so aussehen, wie sie uns tagaus, tagein begegnen“, sagt die in München lehrende Malerin, Bildhauerin und Chemikerin Bussi Buhs (geb. 1940). „Den Beweis können alleine Künstler erbringen, die bereit sind, in freiem Spiel die noch unentdeckten Seiten dieser organischen Materialien, die als schillernd weiblich empfundene ‚Superma-teria‘ die Gestaltungsmöglichkeiten aller anderen Werkstoffe in sich vereinen, in ihrem Werk persönlich zur Sprache zu bringen.“ (Was Künstler über Kunststoff sagen...) Es gilt, die spezifischen Artikulationsweisen, die Kunststoffen eigen sind, zu erforschen und sie im Objekt zum „Sprechen“ zu bringen. Indem Kunst diesen Reichtum erschließt, wird sie selbst um neue Ausdrucksformen reicher.

Die künstlerische Autonomie wird dabei nicht preisgegeben; die „Sprache“ des Kunststoffs soll nicht die Idee des Kunstwerks diktieren. Mit anderen Worten: Nicht die Wahl des Materials entscheidet über die künstlerische Konzeption, sondern umgekehrt. Der französische Bildhauer César Baldaccini (1921-1998) legte Wert auf die Feststellung, die Formen seiner „Expansionen“ aus Polyurethanschaum seien durch die künstlerische Aktivität bestimmt: „Hat man erst einmal den Prozess der chemischen Reaktion verstanden, so greift man mit dem Körper ein: Das ist physisch, das ist die Hand. Es gibt tausend verschiedene Arten zu gießen, um sehr verschiedene Formen zu erzielen. Es gibt auch eine Oberflächenbehandlung durch Pressung, die die Oberfläche festigt. Und bei dieser Arbeit mache ich oft beträchtliche Formveränderungen. Ich kann den Schaum auch schneiden, zerschneiden und ein noch nicht gegossenes Stück hinzufügen. Ich kann alles machen, was ich will.“

Auch auf die lichtplastischen Skulpturen des schon erwähnten deutschen Bildhauers Uli Pohl trifft das Primat der Idee zu: „Man hat geschrieben, dass ein Acrylglas-Objekt zuerst ein durchlässiges Medium ist und dass eben nur diese Durchlässigkeit das Licht und den Umraum vermittelt. Demgegenüber ist festzuhalten, dass in erster Linie die Gestaltung und ihr Ergebnis selbst die Transportmittel für die Verwirklichung der Pohl’schen plastischen Ideen bilden. Auch seine allerersten Versuche (‚Modelle‘) waren keine Materialerprobungen mit dem Ziel, eine mögliche Gestaltung zu finden, sondern Realisationsversuche einer kalkulierten Konzeption.“ (zitiert aus der 1980 auf der 1. Triennale für Kleinplastik gehaltenen Laudatio des damaligen Direktors des Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museums, Dr. Siegfried Salzmann [1928-1993])

Kunst aus Kunststoff als Spiegel der Zeit
Kunstautonomie hin oder her: Kunststoff ist kein neutrales Material, sondern kulturell und sozial präformiert. Die damit verbundenen weltanschaulichen Zuschreibungen sind nicht automatisch außer Kraft gesetzt, sobald die Kunst den Rahmen abgibt. Kunststoff gilt als modern, innovativ, progressiv – kein Wunder, dass auch Künstler mit dem Material Fortschritts-Utopien verbunden haben. Speziell US-amerikanische Künstler haben den Kunststoff inszeniert: poppig-bunt und auf Hochglanz poliert. Sie haben sich dafür vorwerfen lassen müssen, einen Kniefall vor der Konsumgesellschaft zu vollziehen, als deren Frucht und Symbol der Kunststoff begriffen – und angegriffen – wurde. Doch hat die Kunst der Konsumwelt wohl nur den Spiegel vorgehalten. Jedenfalls machen kritische Reaktionen wie diese deutlich, dass der Gebrauch von Kunststoffen verstärkt unter Rechtfertigungsdruck gerät, sobald sich, wie ab Ende der 1960er-Jahre der Fall, Widerstand gegen unser Wirtschaftssystem formiert. Synthetische Materialien waren bei Systemkritikern und Ökoaktivisten bereits verpönt, bevor es 1973 zur ersten Ölkrise kam.

Interessanterweise erlahmte die Kunst nicht durch die Anti-Kunststoff-Tendenz, sie machte sie sich sogar zunutze: Plastik wurde gezielt eingesetzt, um die Aura des Kunstwerks zu brechen, es zu entsakralisieren. Kunststoffe sollten dem Kunstbetrachter die in Museen eingeübte quasireligiöse Andachtshaltung austreiben. Der französische Künstler und Philosoph Hervé Fischer (geb. 1941) ging so weit, die Überreste zerrissener Kunstwerke in Kunststsoffsäcken auszustellen. Und der irische Bildhauer Les Levine (geb. 1935) propagierte sogar eine zum Verbrauch bestimmte „Wegwerfkunst“ aus Kunststoff (Disposable Art). Das geht entschieden zu weit, finden wir – sowohl Kunst als auch Kunststoff sind Güter, die sich zu erhalten (oder immerhin zu recyceln) lohnt ...

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