Staudingers eigener Plan, das Staatliche Forschungsinstitut für makromolekulare Chemie „entsprechend seiner Bedeutung für die moderne chemische Industrie und zur Verbreiterung seiner finanziellen Grundlage (Klaar 1953) zu einem Bundesinstitut auszugestalten, verlief mangels Unterstützung im Sande. Als Staudinger 1956 vereinbarungsgemäß die Institutsleitung niederlegte, richtete das baden-württembergische Kultusministerium daraufhin ein planmäßiges Extraordinariat für makromolekulare Chemie ein – das Universitätsinstitut für Makromolekulare Chemie entstand und siedelte 1962 in einen Neubau um, der heute den Namen „Hermann-Staudinger-Haus“ trägt (vgl. Magda Staudinger 1987, 22).
Am 23. März 1956, Staudingers 75. Geburtstag, veranstaltete die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eine offizielle Feier, die den Gelehrten würdevoll als ehrenamtlichen Institutsleiter verabschiedete. Rektor Bernhard Welte (1906-1983), ein Religionsphilosoph, hielt die Laudatio:
„Sie haben vor nunmehr dreißig Jahren ein Tor geöffnet in der dunklen Mauer der Natur, die die Wissenschaft ständig zu erhellen und zu öffnen trachtet. […] Es ist heute so weit, daß eine ganze Welt hindurchgegangen ist und noch hindurchgeht. Die ganze Welt der Industrie, der Faserstoffe und Kunststoffe, ausgebreitet über alle Länder der Erde, ohne die unser Leben nicht mehr denkbar ist, und die ganze Welt all derer, die diese Faser- und Kunststoffe der vielfältigsten Art benützen. […] Es hat sich ein großes, neues Land von Wissenschaft, Wirtschaft und Leben aufgetan, eben hinter jenem Tor, das Sie durch Ihre wissenschaftliche Arbeit […] geöffnet haben!“ (zitiert nach Staudinger 1961, 305).
Nach seinen Zukunftsplänen befragt, hatte Staudinger schon als frischgebackener Nobelpreisträger die Absicht bekundet, das Studium der Botanik wiederaufzunehmen, das er als junger Mann zugunsten der Chemie aufgegeben hatte (siehe Teil 1 dieser Serie). „Er habe Chemie studiert, weil diese als Grundwissenschaft der Botanik vorausgehe. ›Jetzt […] wird es so langsam Zeit, mit dem Studium der Botanik zu beginnen.‹ Der Nobelpreisträger […] will Student werden. So ist es nun einmal, man lernt eben nie aus.“ (Kunze 1953) Bei Magda Staudinger 1987, 10 heißt es: „Im höheren Alter pflegte er zu sagen, daß er noch nicht genug Chemie könne, um mit dem Botanikstudium zu beginnen. Daraufhin äußerte der Dekan seiner Fakultät in Freiburg, gelegentlich einer kleinen Feier zur Verleihung des Nobelpreises 1953, daß die Fakultät nunmehr nach diesem Ereignis ewarte, daß der verbummelte Botanikstudent jetzt endlich sein Examen in diesem Fach ablegt!“ Was rein anekdotisch anmutet, hat einen substanziellen Kern: Staudingers Rückwendung zur Botanik erhellt einerseits die Ursprünge seiner Makromolekültheorie und erschließt ihm zugleich ein neues Forschungsgebiet, die Molekularbiologie. An dieser Nahtstelle wird deutlich, wie anregend für Staudinger die Begegnung mit der Botanikerin Dr. phil. Mag. rer. nat. Magda Woit, die er 1928 in zweiter Ehe heiratete, auch in wissenschaftlicher Hinsicht gewesen sein muss. Staudinger lernte die aus Riga stammende Tochter des lettischen Gesandten im August 1927 auf Helgoland kennen. Magda Staudinger 1987, 17-18 erinnert sich:
„Ich habe […] in Berlin studiert, weil man Vater in den 20er Jahren der erste Gesandte des unabhängig gewordenen Staates Lettland in Berlin wurde. Ich promovierte dort 1925 beim Pflanzenphysiologen Gottfried Haberlandt (1854-1945, Red.); ging dann nach Riga zurück, machte dort das Staatsexamen an der Universität Riga und wurde Assistentin am botanischen Laboratorium bei Nicolai Malta. Mein spezielles Interesse galt den Meeresalgen, und ich freute mich sehr, als ich im Sommer 1927 einen Arbeitsplatz als Gast an der Biologischen Anstalt auf Helgoland erhielt. Mich interessierte die Zellmembran der Algen, und ich ging an meine Untersuchungen mit dem damaligen Rüstzeug und Kenntnis über kolloide Stoffe. Im August war auch der Freiburger Botaniker, Friedrich Oltmanns (1860-1945, Red.), nach Helgoland gekommen, welcher Algenspezialist war. Ich hatte ihn dadurch kennengelernt, daß ich noch während meines Studiums zwei Algenkurse bei ihm mitgemacht hatte. Eines Tages stand er auf der Landungsbrücke von Helgoland mit einem Herrn und sprach mich an, als ich vorüberkam. Er stellte mir den Herrn vor: ›Mein Kollege von der Chemie, Hermann Staudinger‹ und zu diesem gewandt erwähnte er, daß ich in der Biologischen Anstalt über Zellmembranen der Algen arbeitete. Hermann Staudinger griff diese Mitteilung mit Interesse auf und fragte, ob er sich meine Versuche ansehen könnte: er hätte gerade eine Arbeit über ein Modell der Cellulose, des Hauptbestandteils der pflanzlichen Zellmembran publiziert. Das hinwiederum interessierte mich, und wir verabredeten einen Besuch von ihm im Laboratorium. Er kam am 24. August, sah sich meine Versuche an und ließ sie sich erläutern. Dann sagte er auf einmal zu meiner Verblüffung: ›Das ist alles ganz anders‹, setzte sich auf einen Laborschemel und fing an zu sprechen: ›Es gibt Makromoleküle, und sie werden in Zukunft eine große Bedeutung für die Biologie haben, denn nur mit so großen Molekülen kann die lebende Zelle aufgebaut werden. Sie haben, dank ihrer Größe, verschiedene Formen; dadurch sind so verschiedene Strukturen möglich, wie sie die lebende Zelle benötigt. Sie können wiederum, dank ihrer Größe, ganz verschiedene reaktionsfähige Gruppen beherbergen.‹ Er sprach eine ganze Weile über diese Dinge und erläuterte Phänomene, die zum Teil erst viele Jahre später experimentell nachgewiesen wurden. Ausgehend von seinem Cellulosemodell und angestoßen in diesen Gedankengängen durch meine Versuche, war ihm die Rolle der Makromoleküle für biologische Vorgänge hier und jetzt in dieser Stunde am 24. August 1927 eingefallen. Es war bei ihm wie eine Vision. Heute gibt es die so überaus erfolgreiche Molekularbiologie. Diese Bezeichnung stammt nicht von uns, sondern ist zuerst vom englischen Chemiker (William Thomas, Red.) Astbury (1898-1961) um 1945 gebraucht worden. Das erste Gespräch aber über diese Vorstellungen fand damals auf Helgoland statt. Ich möchte es daher als die Geburtsstunde der Molekularbiologie bezeichnen.“
Vor diesem Hintergrund bezeichnet Jaenicke 2003, 604 Magda Staudinger treffend als „treibende Moira der Makromolekülfäden aus Kaisers Bart“. Allerdings führte das Ehepaar „experimentelle Untersuchungen an den Stoffen der lebenden Zelle“ erst nach 1945 systematisch durch, bedingt auch „durch die Kriegszerstörung des Institutes“ (Magda Staudinger 1987, 18). Doch die Richtung war vorgezeichnet, die Vision blieb vital und das allgemeine Interesse war auch außerhalb der Fachkreise enorm, wie die Berichterstattung der Tagespresse rund um die Nobelpreisvergabe an Staudinger belegt: „Die größte Bedeutung wird […] voraussichtlich die makromolekulare Chemie für die Biologie und Medizin haben. Es steht fest, daß die Lebensvorgänge untrennbar mit den Makromolekülen verbunden sind. In chemischer Hinsicht besteht Leben aus Bildung, Umwandlung und Auflösung, aber auch der Reproduktion von Makromolekülen, die den Gesetzen des Lebendigen folgen, hieß es in der „Lindauer Zeitung“ (Hahn 1953; vgl. Staudinger 1938, 24, 25 u. 29 sowie Staudinger 1961, 302, 306-307 u. 333-334). „Alle unsere modernen Kunststoffe sind […] Großmoleküle. Aber auch alle lebenden Substanzen sind makromolekular. So wird Staudingers Lehre auf dem Gebiete der Biologie noch ihre größten Triumphe feiern“, schrieb „Die Welt“ (Theimer 1953). Erwartungen, die sich erfüllt haben: „Heutige Vorstellungen in der Molekularbiologie sind ohne das makromolekulare Konzept undenkbar. Auch die heute in stürmischer Entwicklung begriffene Genwissenschaft basiert auf den makromolekularen Grundlagen, wie sie Hermann Staudinger gelegt hat.“ (Jostkleigrewe 1987, 7; vgl. Rothschuh 1963, 135-136).
Staudinger genoss auch international hohes Ansehen, schon bevor ihm der Ruf des Nobelpreisträgers vorauseilte, und war im Ausland als Vortragsredner gefragt. Im November 1950 etwa wurde er nach Rom eingeladen, um am Centro Romano di Studi zu sprechen. Das Ehepaar Staudinger nutzte die Gelegenheit für eine private Audienz bei Papst Pius XII. im Petersdom (Magda Staudinger 1987, 23).
Allerdings ließ sich nicht länger darüber hinwegsehen, dass Staudinger, einst Avantgardist der organischen Chemie, inzwischen Mainstream-Positionen vertrat, die nicht mehr sämtlich auf der Höhe der Zeit waren. Staudinger lief Gefahr, vom wissenschaftlichen Fortschritt überholt oder gar abgehängt zu werden. Wo neue Erkenntnisse in Widerspruch zu seinen eigenen Auffassungen gerieten, bewertete er sie als unzulässige Angriffe, ignorierte sie oder bekämpfte sie auf verlorenem Posten. So akzeptierte er den physikalisch-chemischen Nachweis der Flexibilität linearer Makromoleküle nicht und hielt zäh an seinem Konzept fest, Makromoleküle seien starre, stäbchenähnliche Gebilde. Ebensowenig duldete er Modifikationen an seinem Gesetz über die Beziehung zwischen Molekülgröße und Viskosität:
„Ausgehend von der Vermutung, daß lineare Makromoleküle auch als Knäuel vorliegen können, entwickelte Hermann Mark (1895-1992, Red.) in Wien zusammen mit dem holländischen Physikochemiker Roelof Houwink (1899-1987, Red.) Staudingers Viskositätsgleichung empirisch weiter (Mark-Houwing-Gleichung). [...] Die Korrekturen bzw. Ergänzungen Marks und Houwinks zu Staudingers Viskositätsgesetz erwiesen sich als richtig, wurden aber von Staudinger auch noch in den 1950er Jahren abgelehnt.“ (Deichmann 2001, 410)
Speziell der „Polymer Science“ in den Vereinigten Staaten hinkte Staudinger hinterher. Hier, am Polytechnic Institute of New York in Brooklyn, wirkte jener Hermann Mark, mit dem Staudinger sich ab 1926 eine heftige Kontroverse geliefert hatte (siehe Teil 2 dieser Serie). Mark war vor den Nazis 1938 in die USA geflohen, nachdem er an der Universität Wien als Jude die Lehrerlaubnis verloren hatte und zeitweilig inhaftiert worden war. An Marks Institut in Brooklyn war mit Helmut Ringsdorf (geb. 1929, Red.) dann ab Ende der Fünfzigerjahre auch ein Staudinger-Schüler und -Promovend tätig und bekleidete eine Postdoktorandenstelle. Beim Vergleich der „beiden Welten“ schnitt Staudinger nicht gut ab:
Laut Ringsdorf war „das Freiburger Institut in den 50er Jahren nicht mehr weltführend auf dem Polymergebiet. Die Arbeiten waren zwar solide, aber meist klassisch. Hermann Staudinger als Chef des Instituts hielt sicher noch zu sehr an seiner alten virulenten und schweren Kampfzeit der 1920er Jahre fest. Hermann Mark hatte dagegen nach dem Krieg in den USA die Makromolekulare Chemie auf breiter Basis aktiviert. Er hat Physiker, Chemiker und Technologen zusammengebracht und so eine moderne Version der Polymer Science entwickelt und damit das Brooklyner Institut zu seiner damals hohen, internationalen Bedeutung geführt. Im Staudinger’schen Institut vollzog sich diese Entwicklung etwas langsamer […]. Ich habe erst in Brooklyn gelernt, was es in der Polymer-Chemie an neuen Entwicklungen gab.“ (zitiert nach Deichmann 2001, 150)
1957 prallten die beiden Welten dann aufeinander: Staudinger nahm eine Einladung Marks nach Brooklyn an, um dort einen Vortrag zu halten. Er wurde „als der Pionier der Polymere empfangen, als die Person, ›die den Kreuzzug für Polymere angeführt hat‹“ (Deichmann 2001, 186). Doch eine gute Figur machte Staudinger nicht. Ringsdorf erinnert sich:
„Ich hatte damals die Dias für Staudingers Vorträge zusammengestellt und wußte daher, über was er sprach. Wenn man das mit dem verglich, was damals in Brooklyn gemacht wurde, kann man nur sagen, daß diese Vorträge fast finstertes Polymermittelalter waren. Ich kann diese Aussage umso mehr rechtfertigen, als ich die letzten vier Vorträge […] als Originaldias heute noch in der Hand habe. Vor allem die jungen Leute haben damals in Brooklyn Hermann Staudinger sicher als den großen, alten Mann der Makromolekularen Chemie bewundert und verehrt. Das, was er sagte, haben sie wahrscheinlich verzeihend zur Kenntnis genommen, zumal er deutsch sprach.“ (zitiert nach Deichmann 2001, 186-187; vgl. Magda Staudinger 1987, 25)
Ins Jahr 1957 fielen auch Gastvorlesungen in Japan, dem Land, das Staudingers frühe Schriften über hochmolekulare organische Verbindungen noch immer wie eine Bibel verehrte (siehe Magda Staudinger 1987, 20). Staudinger begegnete bei diesem Aufenthalt dem Tenno, dem japanischen Kaiser (ebd., 20 u. 26). 1958 leitete Staudinger die deutsche Delegation im internationalen „Haus der Wissenschaften“ der Brüsseler Weltausstellung. Auch die Ehrungen rissen nicht ab: Noch zwei Mal bekam Staudinger das Große Bundesverdienstkreuz, 1957 mit Stern, 1965 mit Stern und Schulterband (Quelle). „Ihm war ein Glück zuteil geworden wie nur wenigen Wissenschaftlern: den durchschlagenden Erfolg der eigenen Arbeit voll und ganz miterleben und genießen zu können“, schreibt Krüll 1978a, 49 über Staudingers Lebensabend. Mit der Gesundheit ging es allerdings bergab; Staudinger war herzkrank (Mark 1966, 93). „Aber der Geist blieb klar, und das Interesse am Weltgeschehen und den Fortschritten der makromolekularen Wissenschaft blieb bis zum Ende. Hermann Staudinger erlebte noch den Beginn der Raumfahrt in Gestalt der ersten Satelliten. Man berichtete ihm, daß dies überhaupt nur möglich sei, weil es makromolekulare Stoffe gibt, die die Verhältnisse im Weltall aushalten. Den Sommer 1965 erlebte Hermann Staudinger in seinem Garten bei seinen Blumen mit viel Freude. Dann, am 8. September 1965 entschlief er.“ (Magda Staudinger 1987, 27) Die letzte Ruhe fand er auf dem Freiburger Hauptfriedhof. In den Nachrufen auf den 84-Jährigen hieß es u. a.:
- „Damit ist ein Stern erster Größe am Himmel der Chemie erloschen, der in den letzten Jahrzehnten strahlende Helle auf viele bisher dunkle Gebiete der Chemie geworfen hat.“ (Hopff 1969, XLI)
- „Er war Forscher, Lehrer und Apostel. […] (S)ein Forschergeist drängte ihn auf unbegangene Pfade, die zwar mühevoll und unbequem sein mochten, die aber dafür weites Neuland für Forschung, Lehre und Anwendung erschließen mußten.“ (Mark 1966, 93)
Das letzte Wort gebührt der Witwe:
„Ein Jahr danach standen drei Japaner vor mir: sie wünschten zum Grab von Hermann Staudinger geführt zu werden, da sie beauftragt seien, eine Gedenkzeremonie nach ihrem Ritus durchzuführen. Am Grabe stellten sie einen großen Strauß weißer Blumen hin – weiß ist ihre Trauerfarbe. Dann entzündeten sie mitgebrachte Räucherstäbchen, begannen Worte ihres Ritus zu sprechen und sich mit den brennenden, duftenden Räucherstäbchen in beiden Händen immer wieder tief, bis fast zum Boden, vor dem Grab zu verneigen. Ich muß gestehen, daß ich sehr bewegt war. Ein ganz anderes, fernes Land, eine ganz andere fremde Religion, erwies hier einem Menschen ein Gedenken, der ein Stück neuer Erkenntnis der Welt erschlossen hat. Diese Welt ist durch unsere Technik klein geworden, wir sind alle Nachbarn. Und das verpflichtet uns immer dringender zur Mitmenschlichkeit und Mitgeschöpflichkeit auf unserer Mutter Erde. Denn nur damit können wir überleben. Hermann Staudinger ist sein ganzes Leben lang und in ganz verschiedener Weise dafür eingetreten. Und ich glaube, daß dies als sein Vermächtnis betrachtet werden kann.“ (Magda Staudinger 1987, 27-28)