Am 10. Dezember 1953 empfing Hermann Staudinger, 72-jährig, Emeritus und über den Zenit seines wissenschaftlichen Schaffens hinaus, späte Lorbeeren: der Nobelpreis für Chemie als unüberbietbare Krönung seines Lebenswerks, das der chemischen Grundlagenforschung und der theoretischen Fundierung der Kunststoffchemie gewidmet war. Hermann Staudingers Theorie des makromolekularen Aufbaus und seine Verdienste um die Polymerwissenschaften brachten ihm Titel wie „Pionier der Polymerforschung“ und „Vater der Makromoleküle“ ein. Die Kunststoffmesse (K) hat auf ihrer Homepage (www.k-online.de) aus gegebenem Anlass einen vierteiligen Beitrag veröffentlicht, der „Das Leben von Hermann Staudinger“ in seiner Breite und Tiefe beleuchtet. Er zeichnet in chronologischer Weise mit bestechender Detail- und Quellenkenntnis das Porträt eines Mannes, der nicht allein in der Wissenschaft, sondern auch gesellschaftspolitisch als produktiver Querdenker in Erscheinung trat.
Nahezu jedem Chemiker ist Hermann Staudinger heute ein Begriff. Für die breite Öffentlichkeit jedoch ist der Ausnahmewissenschaftler mit Bilderbuchkarriere – Promotion mit 22, Habilitation mit 26 – weitgehend ein Unbekannter geblieben. Noch bevor sich Hermann Staudinger der Wissenschaft zuwandte, ging er in seiner Heimatstadt Worms bei einem Tischler in die Lehre. Das Studium der Botanik schloss sich an, dann, auf Anraten des Vaters, das der Chemie. Die organische Chemie wurde Hermann Staudingers Betätigungsfeld. Im Jahr 1912 erhielt er den Ruf als ordentlicher Professor an die ETH in Zürich, wo er Kunststoffgeschichte schrieb, und von wo aus er die Entwicklungen des Ersten Weltkriegs verfolgte und die deutschen Heeresleistung aufforderte, alle Kampfhandlungen einzustellen und Frieden zu schließen. Angesichts der technischen Überlegenheit der Entente, sagte Hermann Staudinger Deutschland eine Niederlage voraus. Krieg war für ihn kein Mittel der Politik. In der Schweiz reifte er zu einer Persönlichkeit heran, die sich in Frontstellung gegen den politischen wie den wissenschaftlichen Mainstream begab.
1920 veröffentlichte Hermann Staudinger sein „makromolekulares Manifest“, das der Kunststoffchemie das Fundament goss, das damals von der Mehrheit der organischen Chemiker jedoch abgelehnt wurde. Der Gegenwind, dem Hermann Staudinger ausgesetzt war, drohte ihn zu isolieren, doch er hielt zäh an seiner Theorie fest und ließ nicht nach, die Existenz der von ihm postulierten „Riesenmoleküle“ experimentell zu beweisen. 1926 folgte er dem Ruf zurück nach Deutschland an die Universität Freiburg, wo er im Breisgau zu Anerkennung und Ruhm gelangte. Mit den 1930er-Jahren brach für ihn schließlich eine neue Zeitrechnung an, als seiner anfangs heftig befehdeten Theorie des makromolekularen Aufbaus der Polymere endlich die verdiente Anerkennung beschieden wurde.
Während der Gegenwind aus der Wissenschaft nachließ, zog 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine neue Gewitterfront auf. Was hatte Hermann Staudinger als Leiter des chemischen Instituts der Universität Freiburg vom „totalen Staat“ zu gewärtigen? Und wie nur sollte er sich politisch den braunen Machthabern gegenüber in Stellung bringen, die bekanntlich die Losung ausgegeben hatten: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“? Hierzu erfahren Sie mehr in unserem Thema des Monats im Dezember 2019. (Guido Deußing)