Staudinger habe die Existenz der Makromoleküle vollkommen zufriedenstellend belegt, nur dürfe man dabei, so Mark, nicht stehenbleiben: „Wir haben ja nichts davon, wenn wir wissen, ein Molekül hat ein Molekulargewicht von hunderttausend. [...] Wir müssen wissen: Wie sind denn die einzelnen Atome aneinandergefügt? Ist es eine Kette oder schaut es aus wie ein Christbaum? Das war die brennende Frage damals, und da konnte nur die Röntgenstrahlenanalyse helfen. [...] Die Röntgenstrahlen liefern ein Beugungsbild, das heißt eine Menge von Tupfen, und wenn man die genau vermißt in bezug auf ihre Lage und Intensität, kann man zurückrechnen, wo die Atome liegen müssen, damit sie dieses Bild erzeugen.“ (Kreuzer 1982, 48-49) Aus diesem Bild, also einer genaueren Kenntnis der Struktur von Zellulose, Seide oder Kautschuk, ließen sich dann die entscheidenden Schlüsse für das schon erläuterte „molecular engineering“ ziehen, das heißt die Gretchenfrage beantworten: „Wie müssen [...] synthetische( ) Moleküle aussehen, die ähnliche Eigenschaften haben?“ (Kreuzer 1982, 50)
Auch wenn Mark also im Grundsatz mit Staudinger übereinstimmte, hielt er dessen Makromolekülkonzept für nicht differenziert genug und mithin für ausbaufähig. Die Kritik im Einzelnen:
„Die Molekülketten sind unregelmäßig verknüpft – wie viele ineinanderverschlungene gekochte Spaghetti. Es ist diese unregelmäßige oder amorphe Struktur, die Kautschuk und ähnlichen Substanzen ihre Elastizität verleiht. Das Strecken des Kautschuks verändert seinen molekularen Aufbau so stark, daß seine physikalischen Eigenschaften umgewandelt werden. Die verschlungenen Fäden entwirren sich zu einheitlichen parallelen Bündeln. Das Molekül besitzt nicht mehr die unregelmäßige Struktur der weichen und elastischen Substanzen; es gehört jetzt zu den regelmäßigen Atomanordnungen der kristallinen Festkörper [...]. Und es gewinnt Zähigkeit und Steifheit, die der Kristallbau den Festkörpern verleiht.“ (Mark 1970, 127)
Ganz wichtig: Den Kettenpolymeren Netz- und Raumpolymere an die Seite zu stellen, läuft Staudingers Makromolekülkonzept nicht zuwider, weil die „Querverbindungen“ zwischen den Hauptvalenzketten sich ebenfalls als „hauptvalenzmäßig“ darstellten (Meyer, Mark und van der Wyk 1950, 2). Vor diesem Hintergrund entwickelte Hermann Mark zusammen mit dem holländischen Physikochemiker Roelof Houwink (1869-1945) Staudingers Viskositätsgleichung empirisch zur Mark-Houwink-Gleichung weiter (Deichmann 2011, 410).
Ein Fiasko erlebte Staudinger auf dem 1. Faraday Society Meeting, das vom 26.-28. September 1935 im britischen Cambridge stattfand und an dem auch Mark teilnahm:
„I recall that [...] he (= Staudinger, Red.) showed such sticks, broke one, and said, ‚If molecules are degraded, their strength is reduced and the viscosity drops dramatically.‘ Then, turning to E[ric, Red.] K[eightley, Red.] Rideal (1890-1974, Red.), who was in the chair, he said, ‚Professor Rideal, what I just said – isn’t it clear?‘ Rideal looked at he broken sticks and said calmly, ‚Yes, I think it is perfectly clear, but wrong.‘ That terminated any further discussion of the point.“ (Mark 1993, 82)
Staudinger aber behauptete weiter verbissen, Makromoleküle seien samt und sonders starre, stäbchenähnliche Gebilde. Ebenso wenig ließ er sich auf Modifikationen seines Gesetzes über die Beziehung zwischen Molekülgröße und Viskosität ein: „Noch in den 1950er Jahren hielt er an seinem Konzept fest“ (Deichmann 2001, 150; vgl. ebd., 254). So blieb Hermann Mark für ihn ein rotes Tuch: „Mark once sent Staudinger a gift of one of his books. It was returned, marked ‚unopened‘. And Herbert Morawetz recalls that when visiting Professor Staudinger’s widow, he saw another of Mark’s books flagged with a note in the Professor’s handwriting stating, ‚Not science, propaganda.‘“ (Mark 1993, XXIV) Umso erstaunter musste Staudinger darüber sein, dass Mark ihn 1957 und 1961 zu Vorträgen in die Vereinigten Staaten einlud und wie zuvorkommend er von seinem Gastgeber behandelt wurde (Mark 1993, XXIV und Deichmann 2001, 186). Zurück in der Bundesrepublik konnte er sich allerdings die Spitze „Nun glaubt Mark an Makromoleküle!“ (Mark 1993, 122) nicht verkneifen – Mark „glaubte“ an sie schon 1926! – und brachte damit unfreiwillig zum Ausdruck, dass er Mark stets als Widersacher verkannt hatte.
Mark arbeitete weiterhin umtriebig und unermüdlich, engagierte sich als Organisator und Strippenzieher in Wissenschaft und Industrie, national wie international. Hier ein paar Schlaglichter:
„(E)s sind nicht große ins Auge springende Einzelleistungen besonders hervorragender chemischer Forscher, welche den Fortschritt an ihre Fersen heften, sondern es ist eine große, fast unübersehbare Kleinarbeit vieler fleißiger Köpfe und Hände, die in ihrer Gesamtheit eine immer intensivere Ausnutzung der Stoffe ermöglicht und unsere Herrschaft über die Materie zwar langsam, aber unaufhaltsam festigt. Neben den wenigen großen Geistern unserer Wissenschaft, die mit kühnem Griff die Bahn des Fortschrittes aufreißen und sich mit unvergänglichen Lettern in das Buch von der Entwicklung des Menschengeschlechtes eintragen, muß daher auch der großen Menge braver Soldaten gedacht werden, deren jeder nur einen kleinen Stein in das große Mosaik der Gemeinschaftsarbeit fügt, die aber in ihrer Gesamtheit doch eine wichtige Leistung vollbringen, nämlich die unaufhaltsame systematische Förderung und Hochzüchtung der Beherrschung von Kraft und Stoff.“ (Mark 1938, 371)
Hermann Mark starb am 6. April 1992, einen Monat vor Vollendung des 97. Lebensjahres, im Haus seines Sohnes Hans in Austin/Texas. Seine Asche wurde in Wien auf dem Matzleinsdorfer Friedhof gleich neben seiner 1970 verstorbenen Ehefrau beigesetzt (Mark 1993, XXIII). Ein letztes Bekenntnis zu seiner Geburtsstadt, die sich 2009 im 10. Bezirk (Favoriten, Stadtteil Rothneusiedl) mit der Hermann-Mark-Gasse revanchierte.
Marks Vita zerfällt in zwei Leben: „Hermann Franz (1895-1938) + Herman Francis (1938-1992) = H. F. Mark (1895-1992)“ (Jaenicke 2006, 176), die sich in der Rückschau des Alters aber wieder zur Einheit zusammenfügten: „I have had the good fortune to participate in many areas of science for almost an entire century. It has been an amazing experience; our century has seen astounding intellectual progress …“, tat Mark anlässlich seines 95. Geburtstages kund (Mark 1993, XXII). Im Bewusstsein der Nachwelt bleibt er als „Pionier der Makromolekularchemie“ (Priesner 1980, 53) lebendig, als „pioneer in applying modern physics to chemistry“ (Mark 1993, XXII), als „‚founding father‘ of polymer science and technology“ (ebd.). Für Deichmann 2001, 185 ist „Herman Marks Erfolg [...] im Hinblick auf den Einfluß, den ein einziger deutscher oder österreichischer Emigrant ausübte, einzigartig“.
Als Marks Vermächtnis an die Menschheit kann folgende Mahnung aus dem Jahr 1982 gelten, die heute aktueller denn je ist:
„Auf der Erde besteht ein Gleichgewicht zwischen den Pflanzen, das sind sonnenbetriebene chemische Fabriken, und den Tieren, das sind Verbrennungsmotoren. Die Pflanzen nehmen CO2 aus der Atmosphäre und geben Sauerstoff ab, die Tiere nehmen Sauerstoff aus der Atmosphäre und geben CO2 ab [...] und zwischen diesen Dingen hat sich eben im Lauf von drei-, vierhundert Millionen Jahren auf der Erde ein gewisses Gleichgewicht eingependelt. Und jetzt, durch die gegenwärtige massenweise Verwendung von fossilen Brennstoffen [...], das heißt von CO2-erzeugenden Materialien für Wärme, für Transport, für Automobile, für Elektrizität, also für alles, erhöht sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre merklich. Und das hat dieselben Folgen wie das Ausströmen der fluorinierten Kohlenwasserstoffe aus den Spraydosen: Die Einstrahlung der Sonne wird gefiltert, weil CO2 wie Fluorkohlenwasserstoff einen Teil des Sonnenlichtes absorbiert. [...] Es käme entweder zu einer Eiszeit oder zu einer Wüstenbildung (= Treibhauseffekt, Red.) der gesamten Erde. [...] Das Schreckliche ist, daß wir tatsächlich auf einem Vulkan leben. Wenn sich die durchschnittliche Temperatur der Erde nur um ein oder zwei Grade hinauf oder hinunter verändert, ist alles aus.“ (Kreuzer 1982, 61-62)
1900-1913: Schulbesuch; Abitur am Wiener „Theresianum“
1913: freiwilliges Jahr bei der österreichisch-ungarischen Armee
1914-1918: 45 Monate Soldat, u. a. als Offizier im k. k. Kaiserschützen-Regiment Nr. II der österreichisch-ungarischen Armee in Bozen (Gebirgsinfanterie); Beginn des Chemiestudiums an der Universität Wien
Juli 1921: Promotion an der Universität Wien (Doktorvater: Wilhelm Schlenk)
1921-1922: Assistent am Chemischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin
1922-1927: wissenschaftlicher Mitarbeiter und ab 1925 Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie in Berlin-Dahlem
1925: Habilitation an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin
1927-1932: Hauptlaboratorium der I. G. Farben bei der BASF in Ludwigshafen; außerordentlicher Professor für physikalische Chemie an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1932-1938: ordentlicher Professor für physikalische Chemie an der Universität Wien; Beratertätigkeit für die I. G. Farben
1938-1940: Leiter des Forschungslabors der Canadian International Pulp and Paper Mill (CIP) in Hawkesbury/Ontario (Kanada)
1940 ff.: technischer Berater des Chemiekonzerns Du Pont in Wilmington/Delaware (USA)
1940-1965: außerordentlicher Professor, ab 1942 ordentlicher Professor für organische Chemie am Polytechnic Institute of Brooklyn und Polymer Resarch Institute of Brooklyn in New York City; 1965: Emeritierung
1979: Träger der National Medal of Science (USA), Verleihung am 14. Januar 1980 im Weißen Haus in Washington
April 1992: Tod in Austin/Texas