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Im Gummifaltboot aufs Meer hinaus

Von Guido Deußing

Vom 21.bis 29. Januar 2012 öffnet die Messe Düsseldorf ihre Tore zur diesjährigen „boot“, der größten Jacht- und Wassersportmesse weltweit. 1600 Aussteller aus 60 Ländern buchstabieren, was das Herz des Wassersportlers höherschlagen lässt, angefangen mit A wie Abtauchen, B wie Bootsausrüstung und C wie Charterreisen. Die Macher der „boot“ haben sich auch diesmal wieder einiges einfallen lassen, um den Besuchern den Aufenthalt auf dem Messegelände so interessant und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten – beim Schnuppertauchen im überdimensionalen Wassertank, auf der Skimboard-Bahn oder mit dem Frontloop-Trainer. Mit einem großen Andrang rechnen auch die Aussteller exklusiver Jachten, die für Otto Normalverdiener der horrend hohen Preise wegen meist nur Wunschfantasien bleiben werden. Trotzdem kann heute jeder Kapitän eines eigenen Bootes werden – für vergleichsweise kleines Geld! Dank dafür gebührt wesentlich dem Tüftler Alfred Heurich (1883-1967) sowie dem Schneider Johann Klepper (1868-1949), der es wie kein Zweiter verstand, Gummi zu falten.

Wer hat noch nicht davon geträumt, an der Küste stehend, mit geschlossenen Augen und der Nase im Wind, auf Bootsplanken, losgelöst von Ort und Zeit, die Endlosigkeit des Ozeans auszuloten und auf Entdeckungsreise zu gehen – Ankunft und Rückkehr ungewiss? Das Meer hat den Menschen zu allen Zeiten emotional ergriffen. Ängste und Sorgen keimen, wenn düstere Wolken in der Ferne dräuen und der Horizont eins wird mit der dunklen Wassermasse. Hingegen ergreift uns unbändige Sehnsucht nach der Ferne, ist die Luft über ruhigen Wassern stechend klar und der Himmel wolkenfrei. Und der seewärts gerichtete Blick über die funkelnd leuchtende Straße zur untergehenden Sonne, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelt, hat schon so manches Mal das Feuer der Liebe entfacht … Welche Motivation auch immer den Menschen ans, ins, aufs oder unter Wasser führt – alle eint in irgendeiner Weise die Leidenschaft für das nasse Element. Was wohl den 1883 im lothringischen Metz geborenen Alfred Heurich angetrieben haben mag? Dokumentiert ist sein Interesse an Kajaks, schnellen, wendigen Booten, mit denen die Eskimos zu allen Zeiten auf die Jagd gingen.

Was Heurich störte am frühen Original der Eskimokajaks, war deren sperrige Bauweise: Das Grundgerüst bestand aus Holz und Knochen, über das die Inuit, wie die Eskimos auch genannt werden, Tierfelle gespannt hatten. Heurich, dem der Sinn nach einer handlicheren Bootsvariante stand, betätigte sich als Tüftler und konzipierte ein Kajak, das genau seinen Vorstellungen entsprach: Es ließ sich in Minutenschnelle zusam-menfalten und, ohne Mühe und Kosten zu erzeugen, von Hand oder mit der Eisenbahn von A nach B transportieren. Am Ziel angekommen, bedurfte es nur etwas Geschicks und weniger Handgriffe, um ein – die weitere Geschichte belegt es – hochseetüchtiges Boot, das zwei Erwachsenen Platz bot, zu Wasser zu lassen.

Von Tüftlern und Luftikussen
Eben dies geschah am 30. Mai 1905, einem traumhaften Frühlingstag, deutlich zu warm für die Jahreszeit. Die Quecksilbersäule hatte in Mitteleuropa die 25-°C-Marke weit überschritten, und nur in Küstennähe herrschte eine als gering eingeschätzte Niederschlagsneigung. Die Truppen des Osmanischen Reiches lieferten sich mit denen des Königreichs Montenegro heftige Gefechte und Albert Einstein fieberte in der Schweiz der Veröffentlichung seiner speziellen Relativitätstheorie entgegen. Im Kurort Bad Tölz begab sich der Architekturstudent Alfred Heurich zur Jungfernfahrt seines „Luftikus“ an die Isar.

Der Name „Luftikus“ lässt eher an einen aufgeblasen Autoreifen denken als an ein Boot, insbesondere da es zunächst nicht einmal als ein solches zu erkennen war. Dann aber entnahm Heurich seinem Rucksack ein großes wasserdichtes Segeltuch und einem mannslangen, schmalen Gepäckstück einige Bambusstäbe. Der Architekturstudent verband die Stecken zu einem skelettartigen Gerüst, auf das er das Segeltuch spannte.

Nach gut einer Viertelstunde hatte Heurich alles vollbracht. Mit einem gewissen Bangen und Hoffen begab sich der Tüftler ans Wasser und stieß sein dem Kajak der Eskimos nachempfundenes, viereinhalb Meter langes Faltboot ab, wobei er zeitgleich in den offenen Bootsrumpf glitt. Dieser schwamm, sank nicht. Glücklich über den ersten großen Etappensieg machte sich Heurich auf den Wasserweg ins 50 Kilometer entfernte München, das er nach fünf Stunden Paddeln erreichte „Die Fahrt war auf der hochgehenden Isar ein großes Wagnis“, erinnerte sich der Tüftler später, „und dreimal schwebte ich in ernstlicher Gefahr, die ich mit ruhiger Überlegung und blitzschneller Entschlossenheit überwand.“

Bis zu seinem Tod soll Alfred Heurich mehr als 100.000 Kilometer in selbst gebauten Faltbooten zurückgelegt haben. Ob er zum Zeitpunkt der Jungfernfahrt des „Luftikus“ die Tragweite seiner Erfindung zu ermessen wusste? Jedenfalls versäumte er, seinen Namen untrennbar mit dem Faltboot zu verschmelzen und hatte nicht einmal ansatzweise an dem Erfolg Anteil, der dem Faltboot in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten beschieden war. Ruhm und Ehre erntete vielmehr der Schneider und Sportartikelhändler Johann Klepper, der 1907 von Heurich die Lizenz zur Serienfertigung eines Faltboots der zweiten Generation namens „Delphin“ erwarb. Das auf Klepper zurückgehende Unternehmen, die Klepper Faltbootwerft AG, zählt heute zu den weltweit führenden Herstellern.

Der Clou liegt immer im Detail
Nebenbei: Faltboote sind übrigens keine Erfindung der Neuzeit. Bereits 500 Jahre v. Chr. sollen die Armenier in zerlegbaren Booten aus Holz, Knochen und Tierfellen Waren nach Babylon transportiert haben. Die Unangan, die Ureinwohner der Aleuten, einer heute zu Alaska zählenden Inselgruppe, verwendeten Kajaks, Baidarkas genannt, die zwar nicht zerlegbar waren wie die Faltboote der Armenier, wohl aber aus einem vergleichbaren Gerüst aus Treibholz und Knochen sowie einer Bespannung aus Tierhäuten bestanden. Mit den Baidarkas, die in Größe und Form den modernen Faltbooten am nächsten kommen sollen, gingen die Unangan im Beringmeer auf die Seelöwenjagd.

Am Funktionsprinzip des Faltboots, wie es Alfred Heurich nach dem Vorbild des Eskimokajaks konzipierte und Johann Klepper später erfolgreich in alle Welt verkaufte, hat sich bis heute nur wenig geändert. Es lässt sich vereinfacht wie folgt beschreiben: Kaum hat der Fahrer im zu Wasser gelassenen Faltboot Platz genommen, wird der seitliche Wasserdruck von der Segeltuchhaut aufgenommen und durch den Gegenzug der dünnen Längsstäbe (Senten) und Querspanten zu den Steven, der nach oben gezogenen Verlängerung des Kiels, abgeleitet. Die resultierende Bogenspannung, dem architektonischen Prinzip des gotischen Spitzbogens vergleichbar, gibt dem Boot seine Widerstandskraft.

Neben einer stabilen Konstruktion des Bootgerüsts lag das Augenmerk Heurichs auf einer flexiblen Bootswand, die nicht mehr aus Tierfellen bestehen sollte. Das neue Material musste einigermaßen wasser-abweisend, idealerweise wasserdicht sein, und zugleich über eine genügend Flexibilität verfügen, um einerseits über das Bootsskelett gezogen werden zu können und um stabil genug zu sein, auch im Kontakt mit festem Untergrund nicht zu reißen oder anderweitig Schaden zu nehmen. Zudem sollten Größe und Gewicht mühelos trag- und manövrierbar sein.

Heurich setzte auf Segeltuch, einen aus starkem Garn dicht und fest gewebten Stoff, der Wasser einigermaßen abhielt. Um das Segeltuch wasserdicht zu machen, wurde er gummiert. Hierzu wird eine elastische Schicht, die aus Kautschuk besteht, auf das Trägermaterial gebracht und mittels Schwefelzusatz vulkanisiert. Zuerst wird das Bindemittel auf die gereinigte Segeltuchoberfläche aufgetragen. Nach Trocknen dieser Gummischicht wird in heißer Luft oder mit Sattdampf bei ca. 130 °C vulkanisiert. Je nach Mischung und Schichtdicke kann die Vulkanisation zwischen 30 Minuten und 24 Stunden in Anspruch nehmen. Gummiert wird heute noch überall dort, wo Korrosionsschutz von Apparaten, Behältern und Rohren, Schutz vor Ölen, Fetten, Wachsen, Säuren und Laugen oder eine elastische Rückfederung, Abriebfestigkeit und Dehnbarkeit von Oberflächen gefragt ist.

Mit dem Faltboot über den Ozean
Wenngleich das Faltboot schon dem Namen nach den Eindruck erweckt, nicht sonderlich stabil und wirklich allen Wetterlagen gewachsen zu sein, so wurden doch etliche spektakuläre Fahrten mit ihm unternommen – nicht allein auf Binnengewässern, sondern auch und vor allem auf hoher See. In seinem Buch „Faltbootfahrt von Fjord zu Fjord“ beschreibt Erich Wustmann etwa seine im Jahre 1926 bis in den Winter hinein durchgeführ-te Reise von Schleswig-Holstein durch die Nordsee die Westküste Norwegens hinauf. Im Jahr 1928 überquerte der gebürtige Konstanzer Kapitän zur See Franz Romer in einem „Klepper-Faltboot“ als erster Mensch den Atlantik; er verwendete dazu ein segeltaugliches Boot, mit dem er in Lissabon startete, unter anderem in Puerto Rico Zwischenstopp machte, auf dem Weg nach New York aber verschwand – seitdem gilt Romer als verschollen. Einen noch viel weiteren Weg wählte Oskar Speck. 1932 brach der Deutsche allein mit einem Faltboot von Ulm nach Zypern auf, um dort zu arbeiten, fuhr dann aber durch den Suezkanal weiter nach Australien, wo er nach rund siebenjähriger Reise 1939 anlandete und als deutscher Kriegsgefangener bis 1945 interniert wurde; das Boot, mit dem sich Speck damals auf den Weg gemacht hatte, ist im National Maritime Museum in Sydney ausgestellt. Apropos: Im Deutschen Museum in München ist das 5,20 Meter lange Klepper-Faltboot, Typ Aerius II, des deutschen Arztes Dr. Hannes Lindemann ausgestellt, mit dem er 1956 in 72 Tagen unbeschadet den Atlantik überquerte. Lindemann hat über die Jahre hinweg immer wieder von sich reden gemacht durch seine Atlantiküberquerungen in immer kleineren Booten.

Es steht außer Frage, dass sich die Faltboote der ersten Tage optisch und technologisch markant etwa von jenen unterscheiden, mit denen britische Soldaten 1982 – vom argentinischen Radar unerkannt – auf den Falklandin-seln landeten und den ersten Brückenkopf für die spätere Invasion errichteten. Ganz zu schweigen von den Faltbooten, die heuer auf der „boot“ 2012 zur Ausstellung kommen. Insbesondere die für Aufbau und Bespannung verwendeten Materialien besitzen Hightechcharakter: Das Gerüst im Innern besteht aus Holz, Carbonfaser oder Aluminium, die wasserdichte Haut aus Hypalon (Chlor-Sulfat-Polyethylen, CSM), einem hochwertigen, extrem UV-, temperatur- und alterungsbeständigen sowie reißfesten Elastomer, beziehungsweise Polyurethan (PU), einem überaus vielseitig einsetzbaren Kunststoff, über den wir zu einem späteren Zeitpunkt an gleicher Stelle berichten werden. GD

PS: Für den Fall, dass der Beitrag Ihre Lust auf Reisen zu Wasser geweckt hat: Unter www.boot.de erfahren Sie alles Wissenswerte über die weltgrößte Jacht- und Wassersportmesse. Die Firma Klepper ist im Übrigen auch dort vertreten (Halle 13, Stand D 90) oder im Internet zu finden unter www.klepper.de.