Es gibt Drehbücher, die fallen durch, weil die Story entschieden zu dünn ist. Ein hauchdünner Stoff, der es trotzdem ins Kino geschafft hat, ist Nylon. Als ideale Projektionsfläche für Sex & Crime stützt es die Handlung diverser Filme und Filmchen: Nylonstrümpfe sind Blickfang an den Beinen weiblicher Leinwandheldinnen – und taugen im Krimi außerdem als Mordwerkzeug.
In der auf Ischia spielenden deutschen Filmkomödie „Scampolo“ aus dem Jahre 1958 mimt die junge Romy Schneider ein 17-jähriges italienisches Waisenmädchen, das allem Künstlichen mit Skepsis begegnet. Als sie sich vor einem Rendezvous hautfarbene Nylonstrümpfe borgt und zum allerersten Mal überstreift, streckt sie prüfend ihr linkes Bein von sich und fragt ungläubig: „Und das ist also schön? Und so was macht die Männer verrückt?!“ Ja, macht es, lässt sich empirisch behaupten – zwar sicherlich nicht alle Männer, mit Bestimmtheit aber jene, die unter www.strumpfhose.net das Kommunikationsforum „Filme und Strümpfe“ gegründet haben und als Cineasten in Strumpfszenen der Kinogeschichte schwelgen. Dort heißt es: „Filme, in denen Strümpfe oder Strumpfhosen ‚einfach getragen werden‘, gibt es wie Sand am Meer. Da es Standardkleidungsstücke sind, ist das auch kein Wunder.“ Wofür die Mitglieder des Forums sich interessieren, ist aber nicht der Alltag, sondern „eine etwas auffälligere Inszenierung der Strumpfhosen“, der besondere Kick eben ...
Auf Filmplakaten fürs Massenpublikum (Diashow) tauchten Strümpfe aus Nylon, gepaart mit mehr oder weniger lasziven Posen, etwa ab Mitte der 50er-Jahre auf und wurden in den Swinging Sixties fast allgegenwärtig – als optischer Köder für potenzielle Kinobesucher insbesondere in Deutschland, England und Frankreich. Fetischismus hin oder her, „Sex sells“ lautete die Devise, und das bestrumpfte Bein zu präsentieren ließen sich Schauspielerinnen selbst aus der ersten Reihe weder nehmen noch lange bitten. Unvergessen sind zeigefreudige Filme mit Sophia Loren („Lady L“, „Arabeske“), Elizabeth Taylor („Die Katze auf dem heißen Blechdach“), Marilyn Monroe („Bus Stop“), Ann Bancroft („Die Reifeprüfung“), Romy Schneider („Das Mädchen und der Kommissar“), Liza Minelli („Cabaret“) oder Helen Mirren („Hussy“, deutscher Titel: „Zerstörte Liebe“). Auch namhafte Regisseure nahmen sich wiederholt des Sujets wie der Materie an, z. B. François Truffaut („Die Braut trug Schwarz“, „Der Mann, der die Frauen liebte“), Claude Chabrol („Zwei Freundinnen“), Brian De Palma („Dressed to kill“), Roman Polanski („Frantic“) und Pedro Almodóvar („High Heels“).
Auch im TV durfte Nylon nicht fehlen: Die modebewusste Diana Rigg wurde ab 1965 als Emma Peel in der britischen Agentenserie „Mit Schirm, Charme und Melone“ zur Stilikone, und auch in deutschen Krimi-Produktionen wie „Der Kommissar“ (Folge „Der Liebespaarmörder“) und „Graf Yoster gibt sich die Ehre“ (Folge „Die Erbschaft“) durften attraktive Aktricen in Nylonstrümpfen nicht fehlen. Nicht zu vergessen die US-Serie „Raumschiff Enterprise“, denn Nylonbekleidung gehört neben der Gegenwart auch die Zukunft, jedenfalls jene, die sich Science-Fiction-Autoren und -Kostümbildner ausmal(t)en. Kunstfasern haftet schließlich, auch wenn sie längst etabliert sind, in ästhetischer Hinsicht ein futuristisches Moment an, an dem sich die Filme „Barbarella“ (F/I 1968, Regie: Roger Vadim), „Flucht ins 23. Jahrhundert“ (USA 1976, Regie: Michael Anderson) und „Flash Gordon“ (GB/USA 1980, Regie: Mike Hodges) eindrucksvoll bedienten.
Mitunter hat Nylon es nicht nur auf die Filmplakate, sondern sogar bis in die Filmtitel geschafft. Nicht selten handelte es sich dabei um B-Movies oder billige Sexfilmchen fürs Bahnhofskino, doch finden sich hier und da auch kleine cineastische Perlen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Parallelen zu Hitchcocks „Psycho“ attestierten Kritiker dem US-Thriller „Das Mädchen mit den schwarzen Strümpfen“ aus dem Jahre 1957. Der Plot in Kürze: Im Umkreis eines Ausflugshotels in Utah ereignet sich eine mysteriöse Mordserie, der hauptsächlich junge Frauen zum Opfer fallen. Auf Mörderjagd begibt sich ein Anwalt, gespielt von Lex Barker, der als Tarzan- und Old-Shatterhand-Mime berühmt werden sollte, unterstützt von Ann Bancroft, der späteren Oscar-Preisträgerin. Aus deutscher Produktion stammt der ein Jahr später entstandene Streifen „Schwarze Nylons – heiße Nächte“ mit den damaligen Stars Peter van Eyck, Horst Frank und Helmut Schmid in den Hauptrollen, ein zeittypischer Krimi über Mädchenhändler und Rauschgiftschmuggler im marokkanischen Tanger. Mit von der Partie ist Horst Frank auch in „Geheimnisse in goldenen Nylons“. Der Spionagethriller aus dem Jahre 1967 handelt von einem Gelegenheitsdieb namens Carlos, der Gangstern einen Koffer abjagt, in dem er nichtsahnend geheime CIA-Dokumente entdeckt. Auf diese wird nun von allen Seiten Jagd gemacht, Carlos gerät zwischen die Fronten. Was es dabei mit den titelgebenden Nylons auf sich hat, wird hier nicht verraten. Auch der Originaltitel der internationalen Produktion (Regie: Christian-Jacque) spart sie gänzlich aus, er lautete schlicht „Deux billets pour Mexico“ ...
Nicht als Kleidungsstück, sondern als Mordwerkzeug hat Nylon schließlich seinen Auftritt in dem deutschen Krimi „Die Nylonschlinge“ (BRD 1963), stilverwandt mit den Edgar-Wallace-Straßenfegern, in deren Fahrwasser Regisseur Rudolf Zehetgruber mitschwimmen wollte. Engagiert wurde dafür neben Dietmar Schönherr (als Inspektor!) und Gustav Knuth der Wiener Schauspieler und ehemalige Ringer Ady Berber (1913-1966), bekannt aus den Wallace-Streifen „Die toten Augen von London“ (BRD 1961), „Die Tür mit den sieben Schlössern“ (BRD/F 1962) und „Das indische Tuch“ (BRD 1963). Berber war abonniert auf die Rolle des tumben mordenden Monsters, abhängig und ferngesteuert allerdings vom eigentlichen Oberschurken. Auch hinter dem Nylonschlingenmörder verbirgt sich „natürlich“ jemand Unverdächtiges ... „Dieser Film schlägt in puncto Spannung die meisten Edgar-Wallace-Filme um Längen“, urteilte ein euphorischer Krimifan im Edgar-Wallace-Forum. „Der Film ist atmosphärisch dicht und lebt vom Kontrast der zwei Hauptschauplätze, des Schlosses Elford Manor und des Nachtclubs in London, der Esquire Bar.“ „Verworrener Krimi“, befindet hingegen das Lexikon des internationalen Films. Wir meinen: Am Nylon kann’s nicht gelegen haben, das wird so fein gesponnen, dass sich auf einer Strecke von 100 Kilometern Faden so gut wie kein einziges Knötchen findet ...