Wer genauer verstehen möchte, worin Bauers Leistung bestand, muss sich darauf einlassen, den siebenstufigen Äthylenweg (Wittig 2007, 27) Zwischenprodukt für Zwischenprodukt abzuschreiten, bis man beim Acrylsäureester angelangt ist. An die Hand nimmt Bauers Aufsatz „Aus meinem Leben als Forscher und Erfinder“ aus dem Jahre 1963, den er für das jährlich erscheinende Periodikum des Deutschen Erfinder-Verbands, „Schöpferische Leistung“, verfasste (erneut abgedruckt in: Ackermann 1967, 237-243):
- Stufe 1: Acetylen – Äthylenbromid
„Da Äthylen damals schlecht beschafft werden konnte, wurde von Acetylen (siehe Kasten, Red.) ausgegangen, das mit Bromwasserstoff im Licht oder in Gegenwart von Sauerstoff symmetrisches Äthylenbromid liefert“, heißt es bei Trommsdorff 1976, 203. Bauer selbst führt aus: „Als Ausgangsstoff wählte ich unter Berücksichtigung unserer damaligen Rohstofflage Acetylen, einen ungesättigten Kohlenwasserstoff, der u. a. zwei Moleküle Bromwasserstoff anlagern kann. Das geschah [...] so, daß beide Atome Brom an ein und dasselbe Kohlenstoffatom traten und ein asymmetrisches Reaktionsprodukt erhalten wurde, wie es der Markownikowschen Regel entsprach. Für die Acrylestersynthese war aber die symmetrische Addition des Bromwasserstoffs notwendig. Nach der damaligen Erkenntnis mußte es also aussichtslos erscheinen, die Synthese in dieser Weise zu beginnen. Die Vernunft mußte von diesem Versuch abhalten. Dem Erfinder kam aber die Eingebung, mit revolutionärem Optimismus die Richtigkeit der bisherigen, immer wieder erhaltenen Ergebnisse experimentell zu überprüfen. So ergab sich, daß sich die Reaktion entgegen der Regel von Markownikow mit der gewünschten symmetrischen Anlagerung durchführen läßt, wenn bestimmte Katalysatoren wie Licht und Sauerstoff wirksam sind. Diese Wirkung ist als ‚Peroxydeffekt‘ in die chemische Literatur eingegangen.“ (Ackermann 1967, 240)
Die Herstellung des Äthylenbromids aus Acetylen ließ sich die Röhm & Haas AG schützen (Ackermann 1967, 25); in den Patentschriften DRP 368467 vom 24. Juli 1919 ab („Verfahren zur Herstellung von Halogenwasserstoffadditionsprodukten des Azetylens“) und DRP 394194 vom 10. Mai 1921 ab („Verfahren zur Darstellung von Äthylendibromid“) wird beide Male Bauer als Erfinder genannt.
- Stufen 2 und 3: Äthylenbromid – Glykol – Glykolchlorhydrin (Äthylenchlorhydrin)
„Das im weiteren Verlauf der Synthese (durch Verseifung/Hydrolyse des Äthylenbromids, Red.) erhaltene Glykol wurde mit Chlorwasserstoff in Glykolchlorhydrin (C2H5OCl, Red.) überführt. Den sehr aggressiven Chlorwasserstoff, der mit Feuchtigkeit die vom Apparatestandpunkt aus wegen ihrer Korrosionswirkung gefürchtete Salzsäure ergab, stellte man damals in Quarzapparaturen her [...]. Frei von allen Vorurteilen wurden Metallbrenner und Metallkammern verwendet, die sich bei den hier vorliegenden Bedingungen bestens bewährten“ (Ackermann 1967, 240; siehe auch Trommsdorff 1976, 203).
- Stufe 4: Glykolchlorhydrin (Äthylenchlorhydrin) – Äthylencyanhydrin
„An dem nächsten Schritt [...], der Umsetzung von Äthylenhalogenhydrin mit Alkalicyanid(,) war Kohl gescheitert, weil er in Alkohol nur 29 % Ausbeute erhielt. Bauer konnte die Reaktion in Wasser und mit hoher Ausbeute durchführen.“ (Trommsdorff 1976, 203-204) Bauer selbst schreibt: „In der nächsten Reaktionsstufe wird Äthylencyanhydrin hergestellt [...], das als Nitril wasserempfindlich ist. Bei der Herstellung solcher Stoffe vermied der Chemiker die Anwesenheit von Wasser. Die Umsetzung verläuft aber [...] sehr unbefriedigend auch dann, wenn sie bei hohem Druck und hoher Temperatur ausgeführt wird. Spielend leicht wurden hier beste Ausbeuten schon bei Raumtemperatur erhalten, als Glykolchlorhydrin und eine wässrige (sic!) Natriumcyanidlösung miteinander zur Reaktion gebracht wurden [...]. Dies war erneut ein Beispiel für die Problematik bestehender Ansichten. Und immer wieder ist es das Experiment, welches zur richtigen Erkenntnis führt.“ (Ackermann 1967, 240)
- Stufen 5, 6 und 7: Äthylencyanhydrin – Acrylsäure – Acrylsäureester
„Von Äthylencyanhydrin aus würden mit den Prozessen der Verseifung, der Wasserabspaltung und der Veresterung noch drei Reaktionsstufen erforderlich gewesen sein, um endlich zum Acrylester zu kommen. Die Herstellung der in der vorletzten Stufe anfallenden Acrylsäure war dabei wegen ihrer leichten Polymerisierbarkeit [...] schwierig. Diese Stufe war wegen der zu befürchtenden Ausbeuteverluste durch vorzeitige Polymerisation das Sorgenkind der ganzen Synthese. Die Schwierigkeit wurde dadurch überwunden, daß die drei Reaktionsstufen gleichzeitig in einem ‚Eintopfverfahren‘ durchgeführt wurden – erstmals in der Chemie.“ (Ackermann 1967, 240) Bei diesem 1918 beschriebenen sogenannten Eintopfverfahren handelt es sich um die „einstufige Umwandlung der Nitrilgruppe (= Äthylencyanhydrin, Red.) zur Estergruppe mit Schwefelsäure und Alkohol“ (Trommsdorff 1976, 204): „Der Schritt vom Äthylencyanhydrin zum Acrylester beinhaltet 3 Reaktionen, nämlich die Umwandlung der Nitrilgruppe in die Carboxylgruppe, die Veresterung der Carboxylgruppe mit Alkohol und die Bildung der Doppelbindung durch Wasserabspaltung.“ (ebd.) Indem nun Äthylencyanhydrin mittels Schwefelsäure und Alkohol (Methanol) umgewandelt werde, gelange man unmittelbar zum Acrylsäuremethylester, benötige also statt drei Stufen nur noch eine einzige. Bauer unterstreicht: „Mit Nachdruck hatte Professor (Eduard, Red.) Vongerichten (1852-1930, Red.) von der Universität Jena dem jungen Doktor (= Walter Bauer, Red.) bei seinem Abschiedsbesuch von der Universität darauf hingewiesen, bei der Herstellung organischer Produkte ja jedes Zwischenreaktionsprodukt in möglichst großer Reinheit herzustellen, weil nur auf diesem Wege beste Endausbeuten erhalten werden könnten. Und nun wurden gar drei Stufen ohne Reinherstellung der Zwischenprodukte in einem einzigen Gang hergestellt und trotzdem eine Ausbeute von 85 % d(er) Th(eorie) erzielt. So erweist sich immer wieder der Zweifel an der Richtigkeit bestehender Ansichten als berechtigt. Der Forscher muß häufig scheinbar unvernünftig handeln.“ (Ackermann 1967, 240)
Das „Eintopfverfahren“ meldete Röhm & Haas übrigens „aus Geheimhaltungsgründen“ (Wittig 2007, 27) erst zehn Jahre später zum Patent an (DRP 571123 vom 19. Juni 1928 ab: „Verfahren zur Überführung von β-Oxynitrilen oder deren Abkömmlingen in ungesättigte Ester“); als Erfinder wurde Bauer angegeben.
Trommsdorff 1976, 204 würdigt Bauers auf dem Äthylenweg gelungene, „präparativ glatt verlaufende Synthese“ des Acrylsäureesters als genügend, „um die für Entwicklungsarbeiten erforderlichen Monomermengen in der Anfangszeit herzustellen“; allerdings sei dieser Syntheseweg wegen seiner Vielstufigkeit „noch nicht wirtschaftlich“ gewesen (siehe auch Wittig 2007, 27). Das sollte sich nach und nach ändern: Bauer selbst nahm am Äthylenweg schon 1920 „zahlreiche Vereinfachungen vor, unter anderem den Umstieg auf Aceton (C2H2) als Ausgangsstoff“ (Wittig 2007, 27) anstelle des Acetylens.
1922 fasste die Röhm & Haas AG ihre noch kleinen Versuchsbetriebe zur Organisch-Synthetischen Abteilung (OSA) zusammen (Wittig 2007, 27). Doch obwohl die hausinterne Acrylatforschung klipp und klar auf die Entwicklung von Kunststoffen ausgerichtet war, ließen diese vorerst auf sich warten: Das Unternehmen war personell und finanziell limitiert, konjunkturelle Einbrüche in den 1920er-Jahren wirkten ebenfalls lähmend. Außerdem begann der Umsatzkrösus, die von Otto Röhm entwickelte Lederbeize „Oropon“, zu schwächeln, deren Preis zwischen 1925 und 1933 um 50 Prozent fiel (Wittig 2007, 33) – schuld waren die Weltwirtschaftskrise 1929 und der zunehmende Wettbewerbsdruck nach Ablauf des Patentschutzes im Jahr 1930. So handelte es sich bei den ersten marktfähigen Produkten nicht um Polymere, sondern um Nebenprodukte der Acrylester-Synthese; mit Äthylenbromid wurden beispielsweise Feuerlöscher befüllt (Wittig 2007, 29). Immerhin konnte Röhm & Haas ab 1927 „ein unmittelbares Vorprodukt des wichtigen Äthylencyanhydrin“ von der I.G. Farbenindustrie beziehen und war damit der ins Geld gehenden Eigenproduktion teilweise ledig (Wittig 2007, 29). „Nachdem Äthylenoxid und Blausäure technische Produkte geworden waren, konnte man in einem Schritt [...] zum Äthylencyanhydrin gelangen, auf den dann nur noch das Eintopfverfahren folgte. Die Herstellung der Acrylester aus Äthylencyanhydrin blieb lange Jahre das einzige technisch angewendete Herstellverfahren in der ganzen Welt.“ (Trommsdorff, 204-205)