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Polyme(e)re: Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Quelle: istockphoto

Polyme(e)re: Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Ozeane bilden den größten und bislang am wenigsten erforschten Lebensraum der Erde. Der Mensch hat allerdings in den letzten Jahrzehnten seine Kenntnisse über das Ökosystem Meer deutlich vermehren können – und dabei feststellen müssen, dass er das aquatische Element über Gebühr strapaziert hat. Die Folgen unseres Tuns sind unübersehbar: Die Meere sind überfischt und voller Müll und Giftstoffe, bringt es Callum Roberts, Meeresbiologe und Professor für Meeresschutz an der University of York in England, auf den Punkt [1]. Unser schädliches Einwirken sei nicht nur oberflächennah nachweisbar, sondern auch in der Tiefsee.

Handeln tut not. Eingefleischten Pessimisten erscheint jedoch der Kampf für den Schutz der Ozeane aussichtslos angesichts der schier übermenschlichen Anstrengung, die ihrer Meinung nach erforderlich sei, die Vorzeichen umzukehren, und angesichts des immensen Engagements unterschiedlicher Interessengruppen, die das Ökosystem Meer vor allem wirtschaftlich ausbeuten wollen, ungeachtet wahrscheinlicher negativer Auswirkungen, vor denen Umweltorganisationen stets warnen.

Beschränken wir uns auf den Status quo, den zu wahren bereits als Herausforderung betrachtet werden kann. Die Zutaten für den Erfolg des Vorhabens: sofortiges Umdenken, eine gehörige Portion Disziplin und jede Menge Tatkraft. Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen – über Landesgrenzen hinweg. Angesprochen ist die globale Gesellschaft, sind alle Menschen, ungeachtet ihrer politischen, kulturellen oder religiösen Anschauungen, sind Regierungen, Wirtschaft und Industrie. Es gilt, die Ohnmacht vor der Größe der Aufgabe zu überwinden und endlich zu handeln. Es geht um den Prozess des „Kaizen“, den Wandel („Kai“) zum Besseren („Zen“). Genauer gesagt: Es geht um alles!

 
 

Daher braucht es langfristig mehr als guten Willen. Gefragt sind – heute wie auch künftig – Querdenker, Erfinder, Visionäre mit zündenden Ideen für zielführende Innovationen bei der Energiegewinnung und -speicherung, der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung, in puncto Müllvermeidung und -verwertung, bei der ökologisch und ökonomisch gleichermaßen verträglichen Nutzung von Luft, Land und Wasser. Schon kleine Schritte können, sofern sie beherzt und in die richtige Richtung getan werden, den Wandel zum Besseren bewirken.

 
 

Der "Blaue Planet": Die Erde ist zu rund 70 Prozent mit Wasser bedeckt. (Quelle: NASA)

Leben braucht sauberes Wasser

Der Mensch braucht für seine Existenz eine intakte Umwelt. Ohne sie ist alles andere nichts. Die Erde in ihrer Vielgestaltigkeit zu schützen und zu bewahren, bedeutet auch, die Aufmerksamkeit auf das für das Leben unabdingbare Wasser zu lenken und damit auch auf die Ozeane, die Wiege des Lebens, den Grund, der unseren „Blauen Planeten“ einzigartig macht im Universum. Es ist an uns, Schaden abzuwenden und unser Überleben zu sichern – nicht nur das des Menschen, auch das der Tier- und Pflanzenwelt. Keine leichte Aufgabe, allerdings werden die Probleme nur größer, wenn wir sie nicht jetzt beherzt anpacken und, den Beginn sinnvoller und langfristig tragfähiger Aktionen hinauszögern.

Das Bild einer über den Asphalt wehenden Plastiktüte steht wohl jedem vor dem geistigen Auge. Schon diese Szene für sich genommen sagt viel über unsere Sicht auf die Dinge und die Besonderheit polymerer Werkstoffe: Sie sind leicht und gleichzeitig stabil, sie sind individuell zu gestalten und vielseitig in der Anwendung. Ohne Polymere wäre unsere Welt nicht so, wie sie ist. Verkannt wird indes, dass die meisten Kunststoffe energetisch überaus wertvoll und zudem Jahrhunderte haltbar sind – was Segen und Fluch zugleich ist.

Diejenigen, die den Kunststoff verteufeln, nennen ihn (im deutschen Sprachgebrauch) beiläufig oder abfällig Plastik; Befürworter verwenden, mit Blick auf die synthetische Natur, den Begriff Kunststoff; der eine Chemiker betrachtet die polymere Struktur, der andere interessiert sich für den petrochemischen Rohstoff, aus dem Kunststoff überwiegend hergestellt wird, wissend um dessen hohen Energiegehalt als bedeutsamen Faktor für die Strom- und Wärmegewinnung. Selten jedoch erkennt man im Plastik, in Kunststoffen und Polymeren, das, was das Material tatsächlich ist: ein Stoff von Wert, der unser Leben in allen seinen Bereichen nachhaltig prägt und bereichert.

Thema des Monats Juli 2012: Kunststoff bewegt die Welt
 
 

Wenngleich Pfandsysteme hierzulande und auch anderenorts dazu geführt haben, Polymerflaschen zu adeln, sie auf die gleiche Stufe wie Glasflaschen zu heben und wie diese einer Kreislaufwirtschaft zuzuführen, sind wir weit von dem Idealzustand im Umgang mit Kunststoffen entfernt: Die Vorstellung, dass man sich nach einer Plastiktüte bückt, wie man ein Geldstück vom Boden aufhebt, wirkt auf die meisten Zeitgenossen befremdlich. Doch diese buchstäbliche Verneigung vor dem polymeren Werkstoff ist wünschenswert, um den globalen Heilungsprozess in Teilen einzuleiten.

 
 

An mindestens fünf Stellen in den Weltmeeren haben sich Kunststoffrückstände in nicht unerheblicher Menge angesammelt und bilden Areale, die in kontinentalem Ausmaß um die eigene Achse rotieren. (Quelle: U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration)

Es sind vor allem die Wasserwege, über die Kunststoffe in die Weltmeere eingetragen werden. Was letztlich mit ihnen im Meer geschieht, ist nicht abschließend geklärt. Auf viele Fragen, etwa nach den maritimen Transportwegen und -mechanismen, gibt es bislang keine abschließenden Antworten, allenfalls Vermutungen und erste Untersuchungen. Ungeachtet dessen weiß man, dass die Strände entfernter, isoliert gelegener Eilande wie der Osterinsel im Südostpazifik nicht verschont geblieben sind von dem synthetischen Auswurf unserer Zivilisation und gesäumt werden von unserem Plastikschrott. Zudem ist man sich in Fachkreisen einig, dass sich strömungsbedingt an mindestens fünf Stellen in den Weltmeeren Kunststoffrückstände in nicht unerheblicher Menge angesammelt haben und Areale bilden, die in kontinentalem Ausmaß um die eigene Achse rotieren.

Unter dem Einfluss von Salz, Wasser und Sonne zerfällt Kunststoff irgendwann in winzige Fragmente, sogenanntes Mikroplastik, das sich jedoch nicht weiter zersetzt oder gar auflöst, wie man es von organischem Material, Holz etwa, kennt. Mikroplastik verteilt sich im Meer; es landet an Stränden und vermengt sich mit dem Sand; es schwebt mit dem Plankton im Oberflächenwasser des Meeres, wo es von Fischen, im Ozean lebenden Säugetieren und Seevögeln aufgrund von Größe, Form und Farbe mit Nahrung verwechselt und gefressen wird. In toten Seevögeln findet man häufig eine mehr oder weniger große Anzahl von Kunststofffragmenten; sind es maximal zehn, gilt das Gewässer als sauber …

Man weiß nicht, ob das Mikroplastik für den Tod der Tiere verantwortlich war; dieser Sachverhalt lässt sich experimentell nur schwer nachvollziehen. Allerdings zeichnet sich im Hintergrund der Untersuchungen die Spur einer gefährlichen Dynamik ab, die uns zu denken geben sollte: Kunststoff hat die Eigenschaft, Pestizide, Schwermetalle und andere Umweltgifte aus dem Wasser zu ziehen – zu extrahieren, sagt der Experte – und anzureichern. Tiere, die Mikroplastik fressen, nehmen gleichfalls die angelagerten Giftstoffe auf und reichern sie im Gewebe an. Am Ende der Nahrungskette landen die Tiere als Frutti di Mare auf unseren Tellern. Es ist nur einer Frage der Zeit, bis Unvorhergesehenes die Evolutionsleiter zu uns hinaufklettert.

Die Belastung des Meeres lässt sich nicht alleine auf Mikroplastik infolge des Zerfalls von Kunststoffrückständen zurückführen. Teilweise erfolgt die Einleitung unmittelbar mit dem Abwasserstrom. Wie Untersuchungen etwa in Japan ergaben, tragen auch Kunststoffpellets, wie sie als Rohstoff in der Kunststoffverarbeitung oder in Consumer- beziehungsweise Körperpflegeprodukten (z. B. Zahnpaste) als wichtiger Zusatz eingesetzt werden, zur Belastung der Meere bei. Mögen sich die Quellen der Kontamination unterscheiden, der Effekt auf das aquatische Element und seiner Bewohner bleibt letztlich derselbe.

 
 

Die Bewohner der Osterinsel holzten auf ihrem Eiland alle Bäume ab, um Statuen für ihre Götter zu errichten, und als dann der Boden austrocknete, verhungerten sie. (Quelle: istockphoto)

Nicht den Kopf in den Sand stecken

Die Aussichten für unsere Umwelt und damit für uns als deren Bewohner sind, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, wenig erfreulich, aber nicht hoffnungslos. Es wäre grundfalsch, den Kopf in den Sand zu stecken und den Dingen ihren Lauf zu lassen in dem – letztlich verantwortungslosen! – fatalistischen Glauben, die Entwicklung laufe unabänderlich auf eine Katastrophe zu. Das Gegenteil ist der Fall: Handeln ist das Gebot der Stunde – mit rechtem Maß und Verstand. In der Geschichte gebe es genügend Beispiele, wie Zivilisationen durch Umweltkatastrophen, die sie unwissentlich selbst angerichtet hatten, zerstört wurden, berichtet der Meeresbiologe Callum Roberts: „Die Bewohner der Osterinsel holzten auf ihrem Eiland alle Bäume ab, um Statuen für ihre Götter zu errichten, und als dann der Boden austrocknete, verhungerten sie. In Mesopotamien entwickelten die Menschen eine Landwirtschaft mit raffinierten Bewässerungssystemen, aber durch die Methode erhielten die Felder am Ende so viel Salz, dass keine Nutzpflanze mehr darauf wuchs. Die Praxis der Maya, Landwirtschaft an Berghängen zu betreiben, beraubte die ganze Region ihres Mutterbodens, sodass eine lange Dürre zum Zusammenbruch dieser ungewöhnlichen Kultur führte.“ [1, S. 14]

 
 

In nur fünf Jahren, prognostizierte Boyan Slat, ließen sich geschätzt rund sieben Millionen Tonnen Plastik aus dem Meer fischen. (Quelle: Boyan Slat)

Wir sind nicht blind, sondern sehen klar. Hat es auch den Anschein, als sei das Kind in den Brunnen gefallen, ertrunken ist es noch lange nicht. Und die Hoffnung auf Wandel hat sich in der Geschichte der Menschheit stets als starke Triebfeder erwiesen. Einige Forscher sind der Überzeugung, die Weltmeere ließen sich in nur kurzer Zeit zumindest von ihrer Plastikfracht befreien. Einer dieser Idealisten ist der 20-jährige Niederländer Boyan Slat. Der Student für Luft- und Raumfahrttechnik hat Ideen, Visionen, Sendungsbewusstsein. In nur fünf Jahren, prognostizierte er, ließen sich geschätzt rund sieben Millionen Tonnen Plastikmüll aus dem Meer fischen, was dem Gewicht von 1.000 Eiffeltürmen entspreche.

Wie das funktionieren soll? Laut dem angehenden Ingenieur mithilfe riesiger am Meeresboden fixierter, auf der Wasseroberfläche schwimmender Filtersysteme, die sämtliche Kunststoffe über seitlich angebrachte Ausleger einfangen und aus dem Wasser fischen. Das System arbeitet passiv, nur mit der Strömung des Meeres, das die Plastikteilchen in Richtung der Filterplattform spült, wo sie extrahiert und gesammelt werden. Für Meereslebewesen wichtiges Plankton würde herausgespült, während sich der Kunststoff einer Verwertung zuführen und ein gewinnbringendes Geschäft tätigen ließe (unter anderem auch mit seltenen Erden, deren natürliche Vorkommen nahezu erschöpft sind und die mutmaßlich in großer Menge dem im Meer treibenden Kunststoff anhaften).

Ob sich Boyan Slats Idee umsetzen lässt? Manche mögen den, noch jung an Jahren, aufstrebenden Wissenschaftler für naiv halten. Aber ist es nicht das, was wir derzeit brauchen, Menschen, die willens sind, abseits ausgetretener Pfade zu marschieren und auch für vermeintlich verrückte Ideen einzutreten? Wünschenswert wäre es jedenfalls: Nach einer Schätzung der Vereinten Nationen gelangen Jahr für Jahr rund 6,5 Millionen Tonnen neuer Müll in die Ozeane.

Das "Ocean- clean-up"-Projekt von Boyan Slat.
 
 

Tray Mincer und Kollegen fand Zellen, die im Meer schwimmendes Mikroplastik anknabbern. (Quelle: Woods Hole Oceanographic Institution in Woods Hole, Massachusetts/USA)

Mutter Natur findet einen Weg

Während sich einige wenige Menschen den Kopf zerbrechen, wie sich die Belastung der Ozeane durch Mikroplastik reduzieren lässt, hat Mutter Natur offenkundig ein eigenes Konzept entwickelt, mit dem Problem umzugehen. Zu dieser Erkenntnis gelangte jüngst Tracy Mincer von der Woods Hole Oceanographic Institution in Woods Hole, Massachusetts/USA. Wie der Meeresbiologe und sein Team von Wissenschaftlern bei elektromikroskopischen Untersuchungen von Plastikmüll aus der Sargassosee, einem östlich von Florida gelegenen Teil des Atlantischen Ozeans, herausfanden, siedeln sich in kleinen Kerben auf der Oberfläche der Kunststoffe bakterienähnliche Zellen an. Es habe den Anschein, berichten Tray Mincer und Kollegen, als fräßen die beobachten Zellen in der „Plastiksphäre“ den Kunststoff regelrecht auf [2]. Auf Mülldeponien sei man bereits auf Mikroben gestoßen, die Kunststoffe verdauten; nun habe man erstmals im Meer Bakterien entdeckt, die offenkundig eine ähnliche Fähigkeit besitzen.

Bislang stehen Tracy Mincer und Kollegen noch am Anfang ihrer Untersuchungen, deren Fortsetzung beschlossene Sache ist. Ziel ist es, Kulturen jener Zellen anzulegen, die Kunststoffrückstände im Meer vertilgten – ohne der maritimen Welt zu schaden. Sollte Mincers Forschungsansatz sich als richtig und zukunftsträchtig erweisen, bedeutete dies einen großen Fortschritt auf dem Weg zu sauberen Ozeanen. Ungeachtet dessen dürfen wir uns nicht darauf verlassen. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, zunächst einmal vom Gegenteil auszugehen. Dann nämlich bestünde eine große Chance, einen Umdenkprozess in Gang zu setzen, an dessen Ende wir Kunststoffen endlich größere Bedeutung und mehr Wert beimessen – und diese Stoffe dann nicht mehr achtlos in die Umwelt werfen. Daran nämlich hapert es vorrangig.
Guido Deußing

Literatur:
[1] Callum Roberts: Der Mensch und das Meer. Warum der größte Lebensraum der Erde in Gefahr ist. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2013
[2] Erik R. Zettler, Tracy J. Mincer, Linda Amaral-Zettler: Life in the „Plastisphere“: Microbial Communities on Plastic Marine Debris. Environ. Sci. Technol., 2013, 47 (13), pp. 7137-7146

Zur weiteren Vertiefung des Themas:

Mehr Nachhaltigkeit und Schutz von Süßwasserseen (TdM 11/2013)
Plastiktüte auf dem Prüfstand (TdM 10/2011)