Sie liest sich wie ein Roman, die Geschichte des Kautschuks, doch kommt sie gänzlich ohne Fiktionen aus. Den Anfang macht das Zeitalter der Entdeckungsreisen und Expeditionen, die europäische Seefahrernationen rund um den Globus unternahmen, um ihren Reichtum zu mehren und ihre Machtsphäre auszudehnen. Aus Entdeckern wurden Eroberer, die mit Kreuz und Schwert mal amerikanische, mal afrikanische Völker ungefragt „zivilisierten“, oft genug bloß wirtschaftlich ausbeuteten. Durch die, wie Historiker es ausdrücken, „Intensivierung von Fernkontakten“ entstand nach und nach ein weltumspannendes Netz von Handelsbeziehungen, das die Kontinente gleichsam zusammenrücken ließ. Eine Art „Globalisierung 1.0“, gekennzeichnet durch asymmetrische Machtverhältnisse zwischen kolonisierten Gebieten und deren selbst ernannten „Schutzmächten“. Der imperiale Gestus mag abstoßen, doch ist einzuräumen, dass Staaten eine wichtige Aufgabe wahrzunehmen hatten und haben: Als Ordnungsmächte des Marktes sorgen sie für Freihandel und fairen Wettbewerb. Ihnen mithin obliegt es, Konzentration von Marktmacht (Monopolbildung) zu verhindern (vgl. Topik/Wells 2012, 614 u. 811). Dass Staaten an dieser Aufgabe scheitern oder sie nur halbherzig wahrnehmen, lehrt die Geschichte. Mehr noch: Sie erliegen gelegentlich selbst der Versuchung, den Markt zu manipulieren und zu monopolisieren, sobald sie eigene ökonomische Interessen verfolgen (ebd., 812) – eben dies lehrt die Geschichte des Kautschuks. Von den damit verbundenen Scharmützeln handelt der folgende Text, der unsere Serie zur Geschichte des Kautschuks fortsetzt, die mit „Das große Gummi-ABC“ begann. Die am Profit partizipierenden Handlanger schreckten nicht davor zurück, die Kautschukzapfer brutal zu drangsalieren. Wildkautschuk war deshalb Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Kautschukwirtschaft boomte, als Blutgummi („Red Rubber“) verschrien. Mit dem Triumph des Kulturkautschuks waren die Tage des Blutgummis dann gezählt – das Kautschukmonopol hingegen ging endgültig erst mit der Erfindung des synthetischen Kautschuks unter.
Jahrhundertelang hatte die Weltwirtschaft für Kautschuk keine Verwendung. Nach der Entdeckung Amerikas machte das elastische Baumharz in Europa lediglich als Kuriosum die Runde. Die schwarzen, federnden Fladen wurden ausgiebig bestaunt, aber als wertlos angesehen, weil man keine nutzbringende Anwendung für sie wusste. Und so verschwand das exotische Mitbringsel aus der Neuen Welt bald unter allerhand Gerümpel und geriet in Vergessenheit (vgl. Jünger 1942, 15). Aus seinem „Dornröschendasein“ (Fischer 1938, 10) wurde Kautschuk erst 1770 durch den Londoner Optiker Edward Nairne (1726-1806) erweckt, als dieser das Radiergummi erfand. 50 Jahre später machten sich britische Unternehmer die Eigenschaft des Kautschuks, Feuchtigkeit abzuweisen, zunutze und begannen, ähnlich wie einst die Indianer, wasserfeste Stiefel und Schuhe zu fertigen. Der schottische Chemiker Charles Macintosh (1766-1843) fand ein taugliches, 1823 patentiertes Verfahren zur Herstellung von Regenmänteln, die mit Kautschukbenzollösung imprägniert waren und ein Verkaufsschlager wurden – der Name „Mackintosh“ (mit „-ck-“!) wurde zum Synonym für Regenmäntel (Jünger 1942, 26). Trotzdem blieb Kautschuk vorerst das „Stiefkind der Weltwirtschaft“ (Fischer 1938, 10): Der gegen Hitze und Kälte wenig beständige Werkstoff taugte nicht zur Massenproduktion, seinem ökonomischen Potenzial schienen enge Grenzen gesetzt zu sein. Das änderte sich grundlegend, nachdem ein US-Amerikaner, der Mechaniker Charles Nelson Goodyear (1800-1860) aus Philadelphia, den Kautschuk vulkanisiert, d. h. durch Zugabe von Schwefel bei hoher Temperatur in gebrauchsfähiges, haltbares Gummi umgewandelt hatte: „Der Kautschuk ist jetzt verwendbar geworden. Niemand braucht sich mehr über ihn zu ärgern, und kein Geschäftsmann, der Galoschen oder Gummimäntel verkauft, hat mehr zu fürchten, daß seine Kunden ihn später verklagen.“ (Fischer 1938, 14)
Goodyear gibt Gummi
Nach der auf das Jahr 1839 datierten Entdeckung der Vulkanisation (siehe „Das große Gummi-ABC“) stieg die Nachfrage sprunghaft an: 1822 hatten noch 31 Tonnen Rohkautschuk ausgereicht, den weltweiten Bedarf zu decken, „und aus dem Hauptteil w(u)rden weder Gummischuhe noch Regenmäntel gemacht, sondern Radiergummi“ (Fischer 1938, 12). 1876 lag der weltweite Verbrauch schon bei 10.000 Tonnen (Butze 1954, 179; siehe Tabelle 1): Man „trägt […] Gummimäntel, Gummischuhe und verwendet Hartgummi für vielerlei Zwecke; die Elektroindustrie entdeckt die gute Isolationsfähigkeit des Kautschuks, und die teuren Kämme aus Metall, Horn oder Schildpatt machen dem Hartgummi Platz.“ (Fischer 1938, 24) Ein regelrechter Boom war das noch nicht: „Immer noch […] brauchen sich die Gummisammler […] nicht sonderlich anzustrengen […]. Kein Mensch in der Welt denkt daran, daß Kautschuk einmal knapp werden könnte.“ (Fischer 1937, 24) „(N)och ahnt niemand, daß ein paar Jahrzehnte später am Kautschuk Milliarden Mark verdient und Millionen Menschen ihr Leben verlieren werden.“ (Fischer 1938, 14; vgl. Klemm 1960, 16-17)
Der „Siegeszug des Kautschuks“ (Fischer 1938, 15) setzte ein, als die Automobilindustrie auf den Plan trat; Gummi wurde „aus einer Spielerei zum wichtigen Industrierohstoff“ neben Kohle und Stahl (Zischka 1936, 152; vgl. Hoppenhaus 2013, 36).
Wer aber profitierte vom Kautschukboom und machte das große Geschäft? Wer war imstande, durch seine Exporte die weltweite Kautschuknachfrage zu befriedigen? Die Antwort lautet: ausschließlich Länder in den Äquatorialzonen Südamerikas und Zentralafrikas. Hier nämlich, im Einzugsgebiet der großen Ströme Amazonas und Kongo, schufen Klima und Vegetation gleichsam ein natürliches Kautschukmonopol, denn nur im tropischen Regenwald waren jene Pflanzen beheimatet, die kautschukhaltiges Harz (Latex) spendeten, und allein hier waren die für sie idealen Wachstumsbedingungen gegeben. Im von Belgien wirtschaftlich ausgebeuteten Kongo, auf dem Papier zunächst Freistaat, später Kolonie, wurden Lianen der Gattung Landolphia sowie Gummibaum (Ficus elastica), Kickxia elastica und Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) gezapft (Jünger 1942, 95). Den qualitativ hochwertigeren Kautschuk lieferte in den Wäldern Amazoniens die Hevea brasiliensis (siehe „Das große Gummi-ABC“).
Südamerika gesamt Brasilien Afrika gesamt Belgisch-Kongo
1880 | 9.800 | 8.500 | 1.200 | 450
1890 | 25.100 | 16.000 | 3.800 | 850
1895 | 26.500 | 21.200 | 4.000 | 1.600
1900 | 36.200 | 28.500 | 15.500 | 5.800
1902 | 41.100 | 30.100 | 12.300 | 6.200
1904 | 46.000 | 33.200 | 18.500 | 6.500
1906 | 46.200 | 38.500 | 19.500 | 6.000
1908 | 52.000 | 39.300 | 15.600 | 5.200
1910 | 62.500 | 53.200 | 19.800 | 4.800
1912 | 52.500 | 42.100 | 17.500 | 4.200
1914 | 42.800 | 33.500 | 6.200 | 2.500
1916 | 44.200 | 31.900 | 9.800 | 3.000
1918 | 33.700 | 21.600 | 7.200 | 1.800
1920 | 32.500 | 18.500 | 6.500 | 1.000
1922 | 22.200 | 16.200 | 2.800 | 800
(Quelle: Jünger 1942, 198)
Je mehr Automobile gebaut wurden, desto stärker gerieten die Hersteller in den USA und Europa in Abhängigkeit von Kautschukimporten aus Brasilien: „Kautschuk ist praktisch ein Monopol Brasiliens […], und dieses Monopol muß die Welt bezahlen.“ (Jünger 1942, 57) Die Briten ereiferten sich über willkürlich erhobene Ausfuhrzölle, mit denen sich die brasilianische Zentralregierung und die Provinzen ihr Stück vom Kuchen abschnitten: „Die kaiserliche Regierung erhob 1875 einen Wertzoll von 9 %; diesem fügte die Provinz Amazonas einen Zuschlag von 12 %, die Provinz Par(á) einen solchen von 13 % hinzu.“ (Jünger 1942, 57, Fn. 1) Dies verteuerte den Kautschuk noch mehr, für den ohnehin immer höhere Preise zu zahlen waren, weil das Angebot mit der rasant wachsenden Nachfrage immer schlechter Schritt zu halten vermochte. Die Schwierigkeiten waren allerdings hausgemacht:
● „Die brasilianische Kautschukgewinnung zeichnete sich durch den unnachsichtigen Raubbau an der Stammpflanze aus. Sehr oft verschmähte man die langwierige Zapfmethode. Das Umschlagen der kostbaren Bäume beschleunigte den Milchfluß; es war die einzige Möglichkeit, den gesamten Saft in kürzester Zeit zu gewinnen. […] Bereits um die Jahrhundertwende hatte man die Wälder an ihren leicht zugänglichen Stellen so weit ausgeraubt, daß sie für eine regelmäßige Bearbeitung nicht mehr in Betracht gezogen werden konnten. Als die Preise immer weiter anzogen, eine natürliche Folge dieses Verschwendungssystems, griff man zu rigoroseren Mitteln. Expeditionen kampflustiger Seringueiros drangen heimlich in die ergiebigen Gebiete Boliviens ein und begannen in dem kautschukreichen Acregebiet (siehe „Das große Gummi-ABC“, Red.) ihren Bedarf zu decken.“ (Jünger 1942, 77-78; vgl. Fischer 1938, 100 u. 113)Die anhaltende Kautschukknappheit, bedingt durch die hohe Nachfrage wie durch den Raubbau an Mensch und Natur, verbürgte einen hohen Preis, der viel Geld in die Kassen der Anbieter spülte, das Geschäft aber alsbald verderben sollte. Die Abnehmer, die sich übervorteilt und in der Preisspirale gefangen sahen, hielten nach Alternativen Ausschau und setzten alles daran, das brasilianische Kautschukmonopol zu brechen.
Die Briten waren so vorausschauend, schon zu einer Zeit entsprechende Pläne zu schmieden, als Kautschuk für die Wirtschaft noch geringe Bedeutung hatte, lediglich Regenmäntel, Gummischuhe oder Isoliermaterial aus ihm hergestellt wurden (Fischer 1938, 75) – und es noch gar keinen „Blutgummi“ gab. Anders als die USA besaß Großbritannien mit Indien, Ceylon und Britisch-Malaya Kolonien in tropischen Gefilden, wo der Kautschukbaum, die Hevea brasiliensis, theoretisch prächtig gedeihen musste – auch wenn er hier nicht nativ war. Gleiches galt für Niederländisch-Ostindien (Java, Sumatra, halb Borneo), das heutige Indonesien (siehe Karte). Joseph Dalton Hooker (1817-1911), Direktor der der königlichen botanischen Gärten von London („Kew Gardens“), trug deshalb im Januar 1876 dem damaligen britischen Premierminister Benjamin Disraeli (1804-1881) die Idee vor, die „Hevea brasiliensis in das gleichgeartete Klima unserer Asienkolonien“ zu verpflanzen (Jünger 1942, 58) und dort auf Plantagen zu kultivieren. Eine solche Unternehmung angeregt hatte bereits der britische Chemiker Thomas Hancock (1786-1865), der 1855 auf taube Ohren gestoßen war – „die wildwachsenden Bestände an Kautschukbäumen seien völlig ausreichend, um den Weltbedarf auf lange Zeit hinaus zu decken“ (Künne 1961, 172). Clements Markham (1830-1916), Leiter der geographischen Abteilung des „British India Office“, war es 1870 nicht anders ergangen.
Beim Kautschuk gab es allerdings eine Schwierigkeit: „(D)ie brasilianische Regierung hatte Schutzmaßnahmen zur Erhaltung ihres Monopols getroffen. Die Ausfuhr von jungen Pflanzen und Samen wurde mit schweren Freiheitsstrafen bedroht, und zur Durchführung der Bestimmung fand eine genaue Kontrolle aller Schiffe in den Kautschukhäfen statt.“ (Jünger 1942, 58) Blieb nur übrig, offiziell eine Ausfuhrgenehmigung zu ersuchen und darauf zu hoffen, dass Rio sie ausnahmsweise erteilte. Eine entsprechende Anfrage beschied die brasilianische Regierung „brüsk ablehnend“ (Fischer 1938, 75) und witterte ein Ablenkungsmanöver: Man glaubte, die Briten kaschierten im Geheimen längst vorbereitete Aktivitäten, Heveasamen zu stehlen und nach England zu bringen. Die brasilianischen Zollbeamten bekamen deshalb die Anweisung, „britische Schiffe besonders scharf unter die Lupe zu nehmen“ (Fischer 1938, 75).
Tatsächlich kannten die Briten keine Skrupel, sich durch „Biopiraterie“ (Hoppenhaus 2013, 37) der Hevea brasiliensis zu bemächtigen. Dem Botaniker und Großwildjäger John Farris war es bereits 1873 gelungen, mehr als 5.000 Heveasamen vom Amazonas nach England zu schmuggeln. In den Gewächshäusern der Kew Gardens keimte allerdings nur ein Dutzend aus, und als die jungen Pflänzchen nach Indien verschifft wurden, gingen sie allesamt auf See ein (Künne 1961, 173; siehe auch Zischka 1936, 153, Fischer 1938, 68-74, Kropf 1949, 22, und Klemm 1960, 34-35). Nun, drei Jahre später, schlug Hooker Disraeli vor, den an einem Nebenfluss des Amazonas, dem Rio Tapajós, ansässigen britischen Pflanzer Henry Wickham (1846-1928) damit zu beauftragen, „Samenkapseln der Hevea brasiliensis in unbegrenzter Anzahl nach England zu verfrachten“ (Jünger 1942, 64; siehe auch ebd., 62). Hooker rechtfertigte seinen Vorschlag damit, es müsse gehandelt werden, bevor „der Raubbau in den Wäldern Südamerikas schließlich zur Ausrottung der […] Hevea brasiliensis führen werde“ (Künne 1961, 172-173) und die sprunghaft steigende Nachfrage auf dem Weltmarkt von Brasilien nicht mehr gedeckt werden könne. Disraeli willigte ein, deklarierte Wickhams Mission aber als inoffiziell, damit, falls sie auffliegen sollte, die britische Regierung ihre Hände würde in Unschuld waschen können (Jünger 1942, 62). Im Mai 1876 schmuggelte Wickham 70.000 Kautschukbaumsamen, die er mithilfe von Indios gesammelt hatte, an Bord eines auf den Namen „Amazonas“ getauften englischen Schiffes über den Atlantik. Nach erfolgreicher Anzucht in den Kew Gardens überstanden diesmal an die 2.000 Kautschukbäumchen die Seepassage ins südliche Asien. 1.900 wurden im Botanischen Garten von Heneratgoda auf Ceylon (Sri Lanka) ausgepflanzt, 18 gelangten nach Buitenzorg auf Java (siehe „Das große Gummi-ABC“) und 50 nach Singapur (siehe www.irrdb.com/irrdb/about/henry.html; vgl. Künne 1961, 234).
Die Tragweite von Wickhams Coup war 1876 noch nicht zu ermessen. Erst der Kautschukboom nach der Jahrhundertwende ließ ahnen, welchen Schatz die Briten gehoben hatten: „Es sind nicht nur siebzigtausend Heveasamen, die die ‚Amazonas‘ entführt, es sind ungezählte Milliarden Mark, […] die die ‚Amazonas‘ nach England bringt“, heißt es bei Fischer 1938, 79. Es sollte bis 1907 dauern, bis mit 6.000 Tonnen erstmals ein bemerkbares Quantum Plantagenkautschuk auf den Weltmarkt gelangte (Zischka 1936, 155-156 und Butze 1954, 180). Zwar dümpelte der Marktanteil des Kulturkautschuks vorerst nur zwischen einem und zwei Prozent (siehe Tabelle 4), „(d)ieser aber genügt, daß die Männer um den ‚wilden Kautschuk‘ in höchste Bestürzung geraten“ (Butze 1954, 180). Die „Waffen“ waren nämlich „sehr ungleich, mit denen 1907 der Wildkautschuk und der Plantagenkautschuk zum Duell antraten“ (Fischer 1938, 113); es gab mit anderen Worten gute Gründe, den neuen Konkurrenten zu fürchten:
● Im unwegsamen tropischen Regenwald wachsen auf einem Hektar durchschnittlich nur acht Kautschukbäume (Jünger 1942, 78). Dicht bepflanzte Plantagen ermöglichten selbstredend eine deutlich größere Ausbeute auf wesentlich kleinerem Raum.
● „Auf sechs Mark muß man allein die Kosten für die Ernährung eines Arbeiters am oberen Amazonas am Tag veranschlagen. Der Kuli auf Ceylon dagegen ist mit einem Tageslohn von einer Mark rein reicher Mann.“ (Fischer 1938, 113)
● „Wenn man […] geglaubt hatte, daß Brasilkautschuk höhere Preise als Plantagenkautschuk erzielen würde, so mußte man sich auch hierin enttäuscht sehen. Der reinere asiatische ‚best crepe‘ erreichte oft sogar höhere Notierungen als (brasilianischer, Red.) ‚Par(á) fine hard‘.“ (Jünger 1942, 116; vgl. Zischka 1936, 156)
Wende in der Weltwirtschaft
Eine Wende in der Weltwirtschaft war vollzogen: Der Kulturkautschuk hatte den Wildkautschuk unwiderruflich entthront (Zischka 1936, 155; siehe Tabelle 4). Großbritannien war es gelungen, Brasiliens Kautschukmonopol zu unterlaufen – nun schickte es sich an, selbst zum Weltmarktführer zu werden: „1914 gewinnen die Engländer schon einundsiebzigtausend Tonnen, 1920 dreihundertsiebzehntausend, 1929 achthundertfünfzigtausend“ Tonnen Kulturkautschuk (Butze 1954, 180). „Vier Fünftel der gesamten Welterzeugung sind englisch ohne Einschränkung.“ (Butze 1954, 181; siehe auch Zischka 1936, 157 und Fischer 1938, 127 u. 139) „Englisch“ muss allerdings korrigiert werden: Gemeint war „asiatisch“, denn die Briten mussten sich den Kuchen mit den Niederländern teilen, die, wie erwähnt, in ihren ostindischen Kolonien ebenfalls im großen Stil Kautschukplantagen betrieben. Heute stammen übrigens über neunzig Prozent allen Kautschuks aus Asien (Hoppenhaus 2013, 37).
Tabelle 4: Entwicklung des Anteils Wildkautschuk – Kulturkautschuk an der Rohkautschuk-Weltproduktion 1900-1922 (Angaben in Prozent)
Jahr Wildkautschuk Kulturkautschuk
1900 | 100,0 | 0,0
1904 | 99,9 | 0,1
1906 | 99,2 | 0,8
1907 | 98,6 | 1,4
1908 | 97,4 | 2,6
1910 | 90,9 | 9,1
1912 | 71,1 | 28,9
1914 | 40,7 | 59,3
1916 | 25,8 | 74,2
1918 | 13,7 | 86,3
1920 | 11,3 | 88,7
1922 | 6,6 | 93,4
(Quelle: Jünger 1942, 68 u. 198)
Das Ende der Ära des Wildkautschuks bedeutete nicht nur in ökonomischer Hinsicht eine Zäsur: Das Monopol des Blutgummis war gebrochen, ein Ende des Quälens und Mordens an Amazonas und Kongo in Sicht. Für die indigene Bevölkerung und für alle Philanthropen weltweit, die von den Gräueln durch engagierte Publizisten und Politiker Kunde bekommen hatten, war damit „ein großer Schritt vorwärts getan“ (Zischka 1936, 156). Wickhams Tat wurde entsprechend gewürdigt – nur dass weder der inzwischen Geadelte noch die britische Regierung anno 1876 intendiert haben konnten, dem Blutgummi ein Ende zu machen, denn damals ließ das Messer im tropischen Regenwald nur Bäume, noch keine Menschen bluten.
Benutzte Literatur
Nutze, Herbert (1954): Im Zwielicht der tropischen Wälder. Landschaft, Mensch und Wirtschaft. Leipzig: F. A. Brockhaus, 446 S.
Fischer, Karl (1938): Blutgummi. Roman eines Rohstoffes. Berlin: Kommodore (Killisch-Horn & Co.), 176 S.
Helbig, Karl (1949): Der Kautschukrummel. In: K. H.: Paradies in Licht und Schatten. Erlebtes und Erlauschtes in Inselindien. Braunschweig: Vieweg, S. 260-268
Hoppenhaus, Kerstin (2013): Die Kautschuk-Apokalypse. Autoreifen, OP-Handschuhe, Schnuller – unser Alltag ist voller Dinge, die aus dem Saft des Kautschukbaums hergestellt werden, bis heute. Denn die elastischen Fähigkeiten von Naturgummi sind unerreicht. Ein mikroskopisch kleiner Pilz aber bedroht die Weltproduktion. In: Die Zeit, Nr. 45, 31. Oktober, S. 36-37
Jünger, Wolfgang (1942): Kampf um Kautschuk. Leipzig: Wilhelm Goldmann, 4. Aufl., 241 S.
Klemm, Peter (1960): Blutgummi und Buna. In: P. K.: Entthronte Götter. Geschichten um Rohstoffe. Berlin: Neues Leben, S. 7-62
Kropf, Johannes (1949): Vom Blutgummi zum Buna. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag (= Werner und Peter auf Entdeckungsfahrten, 9), 40 S.
Künne, Manfred (1961): Kautschuk. Roman eines Rohstoffes. Leipzig: Paul List 1961, 5. Aufl., 476 S.
Lamparter, Dietmar H.: Löwenzahn. In: Die Zeit, Nr. 13, 20. 3. 2014, S. 23
Olden, Balder (1977): Paradiese des Teufels. Das Leben Sir Roger Casements. In: B. O.: Paradiese des Teufels. Biographisches und Autobiographisches. Schriften und Briefe aus dem Exil. Berlin: Rütten & Loening, S. 81-215
Topik, Steven C. und Wells, Allen (2012): Warenketten in einer globalen Wirtschaft. In: Emily S. Rosenberg (Hg.): Geschichte der Welt. 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege. München: C. H. Beck, S. 589-814
Lischka, Anton (1936): Kautschuk aus Kalk und Kohle gegen „Kautschuk aus Blut“. Der Kampf um den lebenswichtigen Rohstoff der Kraftwagen- und Elektroindustrie. In: A. Z.: Wissenschaft bricht Monopole. Bern, Leipzig und Wien: Wilhelm Goldmann, S. 139-186