Die beiden Hautpterzeuger des Kautschuks, Großbritannien und die Niederlande, hatten unter kontinuierlich fallenden Kautschukpreisen zu leiden. Der Weltkrieg 1914-1918 bescherte zwar den asiatischen Plantagen ein gutes Geschäft, denn es war großer Gummihunger zu stillen: „Neun Millionen Pneumatiks verbraucht die amerikanische Automobilindustrie im Jahr, als der Krieg anfängt, 18 Millionen sind es 1916 und 30 Millionen im letzten Kriegsjahr.“ (Fischer 1938, 131) Die Erzeuger legten allenthalben zu, brachten sogar deutlich mehr Kautschuk auf den Markt, als dieser hergab – die Kautschuklager waren zum Bersten gefüllt, der Preis sank: „Kautschuk ist der einzige Rohstoff, dessen Preis von 1914 zu 1915 unter der dunklen Drohung des ungewissen Kriegsausganges zwar gestiegen, dann aber, nachdem man sich von der ersten Panik erholt hat, ständig gefallen ist, und gerade in diesem dritten Kriegsjahr mit rund 5 Mark je Kilogramm genau so billig geworden ist, wie er es in den Jahren der letzen Kautschukkrise war.“ (Fischer 1938, 127)
Trotzdem entstanden in Asien immer neue Anbauflächen für Kautschuk (siehe Tabelle 5 und Jünger 1942, 118) – in Erwartung einer explodierenden Nachfrage in Friedenszeiten:
„(D)er Krieg hätte bis mindestens 1924 dauern müssen, wenn die riesigen neuen Plantagen noch der Kriegswirtschaft hätten dienen sollen. Aber allein auf den alten Plantagen stieg von Kriegsjahr zu Kriegsjahr die Produktion. Aus den 200.000 Tonnen des Jahres 1916 wurden 265.000 Tonnen im vorletzten und 300.000 im letzen Kriegsjahr. Mit ungeheurer Sorge sahen die Gummihändler der weiteren Entwicklung der Dinge entgegen, denn im letzten Jahr des großen Krieges blieben ihnen 80.000 Tonnen liegen. Was soll werden, wenn in einigen Jahren nun auch noch die neuen gewaltigen Plantagen abgeerntet werden können? Aber wird die Welt nicht nach dem Krieg vor Kautschukhunger brüllen? Werden die jetzigen Feinde, die der Krieg gänzlich von allen Kautschukquellen abgeschnitten hat, sich nicht auf den letzten Fetzen Kautschuk stürzen? Wird es nicht vielleicht ein glänzendes Geschäft werden, daß man jetzt mit 80.000 Tonnen sitzen bleibt, die man dann zu wesentlich anderen Preisen als den jetzigen 5 Mark für das Kilo verkaufen kann?“ (Fischer 1938,128-129)
Preissturz ins Bodenlose
Doch das Gegenteil trat ein: „Die […] Mehrproduktion der britischen Pflanzer hat zur Folge, daß (1918, Red.) 326.000 Tonnen Kautschuk auf den Markt kommen, […] aber die Welt ist nur bereit, den Händlern 230.000 Tonnen abzunehmen, und die Vorräte vermehren sich auf 265.000 Tonnen, auf mehr, als die Welt in einem Jahr aufnehmen kann. Um ein ganzes Jahresquantum ist die Erzeugung dem Verbrauch voraus.“ (Fischer 1938, 131; vgl. Jünger 1942, 118-119) Das Überangebot war gepaart mit Absatzflaute und schwächelnder Konjunktur: „Europa und insbesondere Deutschland und seine einstigen Verbündeten hatten kein Geld, Automobile und damit Kautschuk zu erwerben. Die europäische Automobilindustrie verlor gänzlich die Bedeutung, die sie vor dem Kriege besessen hatte.“ (Fischer 1938, 133) Daraufhin stürzten die Preise ins Bodenlose: „1,80 Mark beträgt in den ersten Nachkriegsjahren der Durchschnittspreis für ein Kilogramm Kautschuk – mehr als 1,1 Milliarden Mark haben die Händler […] durch die Preisdifferenzen allein an ihren Kautschukvorräten verloren.“ (Fischer 1938, 132; vgl. ebd., 164-165 und Jünger 1942, 118-119) Und der Kautschukpreis sollte noch weiter „auf den bis dahin für vollkommen unmöglich gehaltenen Tiefstand von 1,50 Mark für ein Kilogramm ( )fallen“ (Fischer 1938, 136; siehe auch Tabelle 4).
Tabelle 5:
Kautschukanbaufläche in Südasien
Jahr | Gesamtfläche (in 1.000 Acres, 1 Acre = 0,4047 ha)
1905 | 135
1910 | 1.150
1915 | 2.520
1920 | 4.315
1925 | 5.280
1930 | 7.700
1935 | 8.420
(Quelle: Jünger 1942, 203)
Überall in den asiatischen Kolonien gewann man dort, wo man früher Tee oder Reis angebaut hatte, Kautschuk. Dieser hatte anfänglich Rekordeinnahmen beschert, deckte nun aber „nicht einmal mehr annähernd die Unkosten, die die während des Krieges in sinnlosem Umfange angelegten Plantagen verursachen“ (Fischer 1938, 134) – wenn man ihn überhaupt loswurde. Viele Kautschukzapfer wurden ohne Entschädigung entlassen, die Bevölkerung verarmte: „Die luxuriösen Landhäuser der Chinesen, Malaien und Inder verfallen. […] (W)o unter den Eingeborenen vor ein, zwei Jahren noch die letzte Pariser Mode und der modernste amerikanische Wagen glänzten, herrscht bald ungeheures Elend.“ (Fischer 1938, 134; vgl. ebd., 140 und Jünger 1942, 126)
Briten auf Restriktionskurs
Was hatte die Kolonialmacht Großbritannien der Misere entgegenzusetzen? Das British Empire selbst vermochte maximal 20 Prozent der Kautschukproduktion abzunehmen, schon weil die heimische Automobilindustrie, nur noch ein Schatten einstiger Größe, nicht das Zeug zum Großkonsumenten hatte (vgl. Fischer 1938, 136). Mangels Möglichkeiten, den Kautschukverbrauch aktiv anzukurbeln, blieb nur, die Erzeugung zu drosseln, um Angebot und Nachfrage wieder einander anzunähern und so dem Preis Auftrieb zu geben:
„Längst haben sich die größten Gummiproduzenten der Welt zu einem Trust zusammengefunden, der Rubber Growers Association, die schon 1917 die Gefahr der Überproduktion kommen sieht und allen Anforderungen der Kriegswirtschaft zum Trotz schon damals von ihren Mitgliedern verlangt, im Jahre 1918 nur noch vier Fünftel ihrer bisherigen Ernte zu produzieren. Aber vom Rausch der Kriegsgewinne – die man noch nicht hat, aber die man erwarten zu können glaubt – besessen, denken die Pflanzer nicht daran, dem Befehl ihrer Organisation zu folgen, und erst als 1920, fast zwei Jahre nach Kriegsende, die gleiche Organisation, die jetzt nahezu 100 Prozent aller Kautschukpflanzer in Asien umfaßt, mit verstärkter Energie befiehlt, daß nunmehr weitere 25 Prozent der Ernte des Vorjahres bei den Erzeugern verbleiben müssen, statt die Vorräte der großen europäischen und amerikanischen Zwischenhändler zu vermehren, und als die Pflanzer beim besten Willen keinen Abnehmer mehr finden, sinkt die Kautschukmenge, die auf die Märkte des Westens kommt. […] Die Kautschukpflanzer des Fernen Ostens, die eingeborenen wie die europäischen, […] fügen sich diesmal dem Befehl ihrer Organisation, und die Weltproduktion sinkt von 370.000 auf 282.000 Tonnen. Aber […] der Weltkonsum sinkt in diesem Jahre auf 265.000 Tonnen und läßt die Händler abermals mit 20.000 Tonnen […] unverkauften Kautschuks sitzen.“ (Fischer 1938, 136-137)
Solange die Nachfrage sogar hinter das geschrumpfte Angebot zurückfiel, blieb der Handel mit Plantagenkautschuk mit Verlustrisiken behaftet. Es galt deshalb, Alternativstrategien zur Wiederbelebung des Kautschukgeschäfts zu entwickeln. Zu diesem Zweck ernannte der britische Kolonialsekretär und spätere Premierminister Winston Churchill (1874-1965) eine Kommission unter der Leitung von James Stevenson (1873-1926), „die die gesamte Marktlage in bezug auf Erzeugung, Verbrauch und angesammelte Vorräte überprüfen und wirksame Hilfsmaßnahmen ausarbeiten sollte“ (Jünger 1942, 120; siehe auch Zischka 1936, 162). Erklärtes Ziel war die „Stabilisierung der Gummipreise“ (Jünger, 1942 141) durch „Valorisation“ (Aufwertung) des Kautschuks – im Klartext: Verteuerung des Kautschuks durch weitere Verknappung des Angebots. Welche Maßnahmen dazu geeignet erschienen, darüber hatte die Stevenson-Kommission zu beraten und zu beschließen. Die Beteiligten sprachen sich schließlich für eine Beschränkung (Restriktion) sowohl der Erzeugungs- als auch der Ausfuhrmenge mit verbindlichen Maximalquoten aus. So trat am 1. November 1922 „für Malaya und Ceylon ein Gesetz in Kraft […], das unter dem Namen ‚Stevenson Restriction Act‘ bald allgemein bekannt wurde. Sämtliche britischen Pflanzer schlossen sich diesem Gesetz freiwillig an. Amtlich hatte es mit der britischen Regierung keinerlei Beziehung, es war lediglich durch das Colonial Office den Pflanzern empfohlen worden. […] Als Normalproduktion wurde für jede Plantage die Erzeugungsmenge zwischen dem 1. November 1919 und dem 31. Oktober 1920 angenommen. Im Durchschnitt durften von den Pflanzern 60 % der Erzeugung exportiert werden.“ (Jünger 1942, 123)
Nutznießer Niederlande
Der Wohlstand kehrte zurück in die „Gummibezirke( ) des Fernen Ostens […]. Über Nacht verwandelt sich das eintönige Leben in den kleinen Kolonialstädten. Wie einst vor 20 Jahren europäische Opernensembles nach Mana(u)s und Par(á) zogen, ziehen jetzt für Riesengagen europäische […] Tänzerinnen […] nach Sumatra, Borneo und Malacca, wie einst im Urwald des Amazonas und Putumayo fließt der Champagner in Strömen, werden Autostraßen gebaut, […] wimmelt es plötzlich von Luxusautos“ (Fischer 1938, 141). Die Niederländer, die den Briten beim „Stevenson Restriction Act“ einen Korb gegeben hatten, waren ebenfalls Nutznießer (Zischka 1936, 164) und pflanzten profithungrig überall auf Java und Sumatra neue Heveawälder – sobald diese Latex liefern würden, bestand allerdings die Gefahr erneuter Überproduktion und damit einhergehenden Preisverfalls (vgl. Zischka 1936, 164 und Fischer 1938, 167). Vorerst aber galt: „Der Alpdruck der Jahre nach dem Weltkriege war vergessen, das Stevenson-Schema hatte gesiegt.“ (Jünger 1942, 125)
Weil mit den Briten selbst kein Agreement zu erzielen war, suchten die Vereinigten Staaten nach anderen Mitteln und Wegen, um sich aus der Abhängigkeit zu befreien:
● Die amerikanischen Konsumenten hielten sich an „die 23 Prozent der Weltgummierzeugung, die England damals nicht kontrollierte, die in nichtbritischen Gebieten wuchsen, es blieb Niederländisch-Indien“ (Zischka 1936, 162). Von den dortigen Pflanzern, die keinen Ausfuhrbeschränkungen unterworfen waren, kauften die größten US-Unternehmen auf Vorrat ein, „um notfalls den Markt durch Überschwemmung mit Kautschuk korrigieren zu können, sobald die Preise der Briten allzu unverschämt werden sollten“ (Fischer 1938, 139). „Dieser in aller Heimlichkeit gegründete Gummipool verfügte ein Jahr nach seiner Errichtung bereits über 40.000 Tonnen Kautschuk.“ (Jünger 1942, 134) Doch reichte der Rohgummi Niederländisch-Indiens nicht aus, um den wachsenden amerikanischen Bedarf zu decken. (Zischka 1936, 164)
● Mit der Parole „Use less rubber!“ riefen US-Regierung und Wirtschaftsverbände zu einem sparsameren Verbrauch von Gummierzeugnissen, allen voran Autoreifen, auf, damit weniger Kautschuk verarbeitet bzw. importiert werden müsse: „Man gab die Reifen so lange zur Reparatur, bis sie zur völligen Unbrauchbarkeit abgenutzt waren. […] Der Ankauf neuer Reifen wurde im ersten Jahr der Kampfansage durch Verbrauch der Reservereifen umgangen, und Schläuche galten erst als unverwendbar, wenn kein Flicken mehr auf ihnen Raum hatte. Die Regierung richtete zudem beim Bau von Autostraßen ihr Hauptaugenmerk auf höchste Schonung der Bereifung, die auf neuen Musterstraßen zum Teil vervierfacht werden konnte. Alle diese Maßnahmen hatten für das Rechnungsjahr 1925/26 zur Folge, daß 18 % weniger Reifenmäntel und 23 % weniger Schläuche als im Vorjahre verbraucht wurden, obwohl der Automobilbestand in dieser Zeit um mehr als zwei Millionen Stück angewachsen war.“ (Jünger 1942, 132-133; vgl. Fischer 1938, 146) Einen antiamerikanischen Seitenhieb auf die kollektive Anstrengung kann sich Jünger 1942, 131 nicht verkneifen: „Wer den Charakter des Nordamerikaners einigermaßen kennt, seine Neigung zu […] Herdenmäßigkeit, seine geringe Individualität und seinen ausgeprägten Nachahmungstrieb, der weiß, daß in diesem Land nichts leichter ist, als die Masse zu mobilisieren.“
● Die Industrie sollte ebenfalls Kautschuk einsparen – ohne deshalb weniger Reifen produzieren zu müssen. Das Zauberwort hieß „Kautschukregenerat“: „Schon Goodyear hatte ein Patent auf die Wiederverarbeitung gebrauchsunfähig gewordener Gummiwaren erhalten. Dieser sogenannte ‚regenerierte Kautschuk‘ kann zu fast allen Gegenständen Verwendung finden, für die Rohkautschuk gebraucht wird. Autoreifen, die einer außerordentlich hohen Beanspruchung unterliegen, enthalten jedoch in normalen Zeiten nur wenig Regenerat, weil ihre Widerstandsfähigkeit durch zu große Beimischung beeinträchtigt würde.“ (Jünger 1942, 133, Fn. 1) Doch die Verhältnisse nach dem Weltkrieg wurden ausdrücklich nicht als „normal“ angesehen. Die Konsequenz: „Selbst allererste Reifenqualitäten hatten eine Beimischung von 25 % regeneriertem Altkautschuk.“ (Jünger 1942, 133) So schob dieser sich kontinuierlich in den Vordergrund. 40.000 Tonnen wurden 1921 gewonnen, 200.000 Tonnen im Jahre 1927, und der prozentuale Anteil des Regenerats an der gesamten Rohkautschukeinfuhr der Vereinigten Staaten machte einen Sprung von 19 auf 47,7 Prozent. Trotzdem nahm der Rohgummiverbrauch der Vereinigten Staaten zu, aber – und darauf kam es an – weniger stark als die Automobilerzeugung und der Automobilbestand (siehe Fischer 1938, 146).
Von Guayule bis Löwenzahn
Allen Bestrebungen, „sich von dem Druck der willkürlich festgesetzten englischen Kautschukpreise frei zu machen“, machte jedoch „die ständig wachsende Produktion der Kraftwagenindustrie“ einen Strich durch die Rechnung, resümiert Jünger 1942, 135. „Die Amerikaner sahen sich unter solchen Umständen den Engländern gegenüber in derselben Lage wie diese einst Brasilien. Es war also gegeben, daß sie auf den gleichen Ausweg verfielen, mit dem Großbritannien einst die Situation zu seinen Gunsten entschieden hatte“, d. h. selbst Kautschuk zu erzeugen. Weil für die Hevea brasiliensis nirgends in den Vereinigten Staaten adäquate Wachstumsbedingungen anzutreffen waren, hatte man schon Jahre vor dem „Stevenson Restriction Act“ damit begonnen, sich nach anderen potenziellen Kautschuklieferanten umzuschauen, und verstärkte nun entsprechende Anstrengungen:
● Die „Continental Rubber Company“ investierte in den mexikanischen Guayulebaum, „eine Pflanze, in der Kautschuk nicht in Form von Latex, sondern als feste Substanz vorkommen sollte und angeblich in einem Mahl- und Waschprozeß gewonnen werden konnte. Tatsächlich wurden 1910 etwa 8.000 Tonnen dieses Kautschuks hergestellt, der sich jedoch als industriell kaum verwertbar erwies.“ (Fischer 1938, 159)
● 1925 gründete Thomas Alva Edison (1847-1931), der Erfinder der Glühlampe, die „Edison Botanic Research Corporation“, um „aus einheimischen Pflanzensäften einen gleichwertigen Ersatzstoff für Kautschuk zu finden“ (Jünger 1942, 136): „Nach zwei Jahren waren in den Laboratorien in New Jersey und Florida Tausende von Pflanzen untersucht worden. Einige hundert davon wurden in den südlichen Staaten der Union auf Versuchsfeldern kultiviert, aber nur eine einzige von ihnen vermochte im letzten Stadium der kritischen Untersuchung den gestellten Anforderungen standzuhalten. Es war das amerikanische Unkraut Golden Rod, von dem man in Fort Myers eine Abart, die Golden Rod Gigantica, gezüchtet hatte. Obwohl die Milch dieses Gewächses in reichlichem Maße ein kautschukähnliches Gemenge enthielt, erwies sich doch bald, daß sie zu praktischer Verwendung keine Eignung besaß. Es fehlte ihr sowohl die Elastizität wie jene beständige Festigkeit, die für die Herstellung von Autoreifen ganz unerläßlich war. […] Edison starb, ohne einen neuen amerikanischen Kautschuk gefunden zu haben“ (Jünger 1942, 137-138; vgl. Zischka 1936, 169 und Klemm 1960, 51) – Nebenbei bemerkt: Aus einer Unterart russischen Löwenzahns (Taraxacum kok-saghyz) entwickelt der Reifenhersteller Continental gegenwärtig gemeinsam mit Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts einen Naturkautschukersatz als Ausgangsmaterial für „grüne“ Autoreifen. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ kommentierte augenzwinkernd: „Da kann man den Reifenfertigern in Westeuropa nur raten: Füllt die Lager mit Puste-Samen, bevor Russlands Präsident Wladimir Putin einen Löwenzahn-Ausfuhrstopp verhängt – als Revanche für westliche Sanktionen infolge der Krimkrise.“ (Lamparter 2014, 23)
● Um Kautschuk zu gewinnen, kam nach all dem nur die Hevea brasiliensis infrage. Um sie zu kultivieren, wichen die Vereinigten Staaten auf fremdes Staatsgebiet in die Äquatorialzone aus. Schon kurz nach Ende des Weltkriegs hatten „amerikanische Gesellschaften in Niederländisch-Indien im Verlauf weniger Jahre Besitzungen in der Ausdehnung von über 80.000 Hektar erworben. Von dem Tage an, als die holländische Regierung dieses Manöver durchschaute, wurde der Ankauf von Kautschukplantagen und der Erwerb von Ländereien, die zur Anlage solcher Plantagen geeignet waren, so sehr erschwert, daß es sich für Amerikaner als unmöglich erwies, in ihren Besitz zu gelangen.“ (Jünger 1942, 135; vgl. ebd., 119) Nun, im Kampf gegen den „Stevenson Restriction Act“, bewilligte der US-Kongress umgerechnet zwei Millionen Mark, um „die Möglichkeiten von Gummipflanzungen auf den Philippinen und Lateinamerika nachprüfen zu lassen“ (Fischer 1938, 143). Kundschafter aus Akron, dem „Reifenzentrum der Welt“ (siehe „Das große Gummi-ABC), berichteten vom Amazonas, das Land sei „wunderbar geeignet für Kautschukpflanzungen, und auch heute noch stehen an den 60.000 Kilometer langen Ufern des Amazonasstromgebiets vielleicht 300 Millionen Gummibäume, von denen zur Zeit des Blutgummis nur etwa 20 Millionen angezapft worden sind; auch die Transportverhältnisse sind nicht schlecht. […] Aber die Arbeiterfrage wird nicht zu lösen sein. Noch immer schütteln sich die Indios des Amazonasbeckens vor Entsetzen, wenn sie das Wort ‚Kautschuk‘ hören; sie haben nicht vergessen, was ihnen und ihren Völkern vor 20 Jahren geschah. Die großen Gummiproduzenten der Vereinigten Staaten verzichten darauf, Heveen in dem Land zu pflanzen, in dem der Boden einst mit Blut gedüngt wurde.“ (Fischer 1938, 144) Nur Henry Ford (1863-1947), der Automobilmagnat aus Detroit, wagte den Versuch – und scheiterte mit seiner Riesenplantage am Rio Tapajós, tief im brasilianischen Urwald. „Reifenkönig“ Harvey Samuel Firestone (1868-1938) sollte in Afrika mehr Erfolg haben, allerdings ohne das Kautschukmonopol ernstlich schwächen zu können (über Ford und Firestone berichtet ausführlich eine der nächsten Folgen unserer Serie).
Zischka 1936, 168-169 resümiert: „Kautschuk gab es eher zuviel als zuwenig. Aber er war so unregelmäßig verteilt. […] Immer wieder mußte das zu Kampf führen.“ Doch das Kautschukmonopol Asiens wankte nicht – bis die Wissenschaft auf den Plan trat und den synthetischen Kautschuk erfand. Erste Versuche dazu wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts von französischen und deutschen Chemikern unternommen, die damit anfänglich der Natur des Kautschuks und seiner molekularen Struktur auf den Grund zu gehen versuchten. Auf einen brauchbaren Kautschukersatz zielten dann später vor allem die Bemühungen hierzulande: „Ohne tropische Kolonien und ohne deren Exporte hatten die deutschen Wissenschaftler eine Neigung zu autarken Lösungen entwickelt, die großen Einfluss auf die Weltmärkte haben sollten, so etwa bei Nitraten, Farbstoffen wie Cochinelle oder Indigo, Kautschuk oder Zucker. Das war nicht nur Resultat eines Talents für Chemie, von hochentwickelten Labors oder exzellenten Universitäten, sondern auch eine durch die Weltwirtschaft diktierte Notwendigkeit.“ (Topik/Wells 2012, 765)
Fritz Hofmann (1866-1956) von den Elberfelder Farbenfabriken gelang es, den Grundkörper des Kautschuks, Isopren, künstlich herzustellen und erfolgreich zu polymerisieren, sodass ein synthetischer Kautschuk entstand (siehe „Das große Gummi-ABC“). Er erhielt dafür am 12. September 1909 das Kaiserliche Patent Nr. 250 690. Als der Erste Weltkrieg Deutschland vom Weltmarkt abschnitt, war plötzlich die Industrie auf künstlichen Kautschuk angewiesen, mit dem man bislang nur im Labor Erfahrungen gesammelt hatte. Man verlegte sich von Isopren auf Dimethylbutadien und stellte Methylkautschuk her, der allerdings so minderwertig war, dass man nach 1918 die Produktion wieder einstellte. 1927 wurde in Leverkusen durch die Chemiker Walter Bock und Eduard Tschunkur das hochwertige Buna entwickelt, dem diese Serie noch einen eigenständigen Beitrag widmen wird. Buna, ein synthetischer Kautschuk aus dem Grundkörper Butadien und dem Polymerisationshelfer Natrium, wurde etwa ab 1930 in Deutschland industriell zu synthetischem Gummi verarbeitet (Fischer 1938, 170). In den USA gewannen im selben Jahr die Chemiker Wallace Hume Carothers (1896-1937) und Arnold Collins vom DuPont-de-Nemours-Konzern in Wilmington/Delaware aus Chlornatrium das dem Isopren verwandte Chloropren. Polymerisiert und vulkanisiert wurde aus ihm synthetisches Gummi (Handelsnamen: Duprene, Neopren). Schöne Erfolge, aber es waren schlechte Zeiten für künstlichen Kautschuk, zu günstig wurde das Original pflanzlicher Provenienz angeboten. Ergo vertrat das „Internationale Kautschuk-Komitee“ die „Auffassung, daß Buna für Exportzwecke vorerst unrentabel sei und somit den Welthandel nicht erschüttern könne. Der Preis für Kunstkautschuk […] bewege sich auf einem Stand von 4 bis 5 Mark je Kilogramm, wohingegen der Plantagenkautschuk im Notfall für weniger als 60 Pfennig auf den Markt zu bringen sei.“ (Jünger 1942, 195; vgl. Fischer 1938, 172-173) Auch sei es viel kostspieliger, eine Industrieanlage zu betreiben als eine Plantage, nicht zuletzt im Hinblick auf die Entlohnung hier von Facharbeitern, dort von „billigen Kulikräften“.
Fischer 1938, 174 wendet ein, „was für eine relative Angelegenheit der Preis ist. Um Tausende von Prozenten hat in der Zeit des Blutgummis und des Plantagenkautschuks der Preis unseres Rohstoffes geschwankt. Welchen Sinn also hätte es, sich […] über den Zukunftspreis des ‚Bunas‘ den Kopf zu zerbrechen?“ Hinzu komme: „Man kann die Produktion des synthetischen Kautschuks […] weit leichter regulieren als die der ungeheuren Plantagen, die nun einmal da sind und wenigstens ihre Unkosten gedeckt haben wollen.“ (Fischer 1938, 176) Zudem sei die Preisdiskussion einseitig materialistisch, nimmt Fischer 1938, 174-175 wie für ihn üblich den Kapitalismus aufs Korn: „(W)ie damals die erste Tonne Plantagenkautschuk bereits einen Sieg über den Blutkautschuk bedeutete, so bedeutete schon der erste Bunareifen einen Triumph der Moral und der Vernunft über die spekulative Wirtschaft, einen Triumph des Geistes über das Geld und die Börse.“ Ebd., 176 ist die Rede von einem „Sieg des Verstandes und der Technik über die Härte und Brutalität, mit der die ‚freie‘ Wirtschaft einst der Natur und den Menschen zuleibe gehen durfte“. Der Standpunkt, der Preis sei nicht alles, ließ sich aber auch ohne ideologischen Eifer vertreten – indem man den Qualitätsgesichtspunkt gewichtete. Dem Internationalen Kautschuk-Komitee könne die „Industrie entgegenhalten, daß sie den Kampf aufgrund der besseren Qualität weiterzuführen imstande ist. Schon heute übertreffen die synthetischen Erzeugnisse für eine Reihe von Spezialanwendungen das Naturprodukt so weit, daß sie auf diesen Gebieten als dominierend anzusprechen sind. Solange aber d(er) eigentliche Herrschaftsbereich des Pflanzenkautschuks, die Reifenindustrie, nicht entscheidend angegriffen werden kann, ist seine Weltmarktstellung keinen Erschütterungen ausgesetzt.“ (Jünger 1942, 196; vgl. Fischer 1938, 171)
Droht die „Kautschuk-Apokalypse?“
Fest stand: Der synthetische Kautschuk („Kunstkautschuk“) hatte das Monopol des Naturkautschuks gebrochen. Denn nun war es möglich, einen „ursprünglich landschaftlich gebundenen Rohstoff“ überall auf der Welt industriell herzustellen (Butze 1954, 182) und damit gänzlich unabhängig vom Plantagenkautschuk zu werden. Gänzlich unabhängig? Der Siegeszug des synthetischen Kautschuks war unumkehrbar, doch erwies sich als Fehleinschätzung, Naturkautschuk werde von nun an überflüssig oder ökonomisch bedeutungslos. Bis heute ist nichts davon eingetreten: Der Anteil des Naturkautschuks an der weltweiten Gummiproduktion „liegt bei 43 Prozent, Tendenz steigend“, denn „die elastischen Fähigkeiten von Naturgummi sind unerreicht“ (Hoppenhaus 2013, 36). „Selbst moderne Pkw-Reifen bestehen heute […] aus 10 bis 30 Prozent Naturkautschuk, bei Lkw-Pneus sind es sogar mehr als 40 Prozent.“ (Lamparter 2014, 23)
Der „Kampf um Kautschuk“ (Jünger 1942) ist passé; der synthetische und der natürliche Kautschuk koexistieren friedlich. Letzterer – bzw. sein Lieferant, die Hevea brasiliensis – hat einen ganz anders gearteten Feind: den im deutschen Kriegswaffenkontrollgesetz als Kampfmittel gelisteten Schlauchpilz Microcyclus ulei (Hoppenhaus 2013, 37). Noch kommt der Pilz nur in Lateinamerika vor, wo er im Regenwald nicht allzu viel Schaden anrichten kann – die Bäume stehen weit auseinander, das verhindert einen epidemischen Befall. Nicht auszudenken jedoch, wenn der Pilz eines Tages nach Asien gelangte und sich auf den eng bepflanzten Hevea-Plantagen breitmachte – zumal es sich dort um Baumklone handelt, die allesamt auf Henry Wickhams Sämlinge aus dem Jahr 1876 zurückgehen und somit ein schwaches, weil genetisch gleichförmiges Bollwerk gegen den Pilz aufrichten. Bei Hoppenhaus 2013, 37 heißt es unter der reißerischen Überschrift „Die Kautschuk-Apokalypse“: „Für viele Experten ist der weltweite Siegeszug von Microcyclus ulei […] nur eine Frage der Zeit. Die Folgen wären katastrophal.“ Bleibt zu hoffen, dass in der Geschichte des Kautschuks dieses Kapitel ungeschrieben bleibt …
Redaktionsbüro GDeußing
Uhlandstraße 16
41464 Neuss
E-Mail: