Ein Weihnachtsbaum, der weder sticht noch nadelt? Der so pflegeleicht ist, dass er nicht mal Wasser braucht und trotzdem im Januar kein bisschen kahl ist? Keine Wunschfantasie, sondern Realität – und trotzdem ist das Bäumchen nicht echt. Es kommt nämlich aus keinem Wald, sondern aus der Retorte. In den USA besteht bereits jeder dritte Christmas Tree aus Kunststoff, weil er seinem natürlichen Vorbild vieles voraushat. Bei uns ist er noch nicht wirklich trendy, doch immerhin liegt sein Marktanteil bei rund zehn Prozent. Allerdings fristen die künstlichen Weihnachtsbäume meist ein Dasein in zweiter Reihe, haben ihren Glanzauftritt also nicht im Wohnzimmer, sondern illuminieren Balkon oder Terrasse.
Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände lassen jedes Jahr rund 28 Millionen Bäume für die deutsche Weihnacht ihr Leben. Schluss mit dem Tannenmord macht das Ausweichen auf künstliche Exemplare. Sie sind von vornherein tot und gleichwohl „langlebiger“, d. h. länger haltbar und wiederverwendbar. Ein Argument für Nachhaltigkeitsapostel, denn so entfällt der alljährliche CO2-trächtige Transport vom Forst über den Händler zum Kunden. Allerdings: Vier von fünf Plastikbäumen sind Importe aus China; damit die CO2-Rechnung aufgeht, müssten sie mindestens zehn Weihnachten lang ihren Dienst tun, hat die Zeitschrift „Geo“ errechnet.
Die Ökobilanz wird durch das Entsorgungsproblem weiter geschmälert: Wurden künstliche Bäume früher aus natürlichen Materialien wie Federn oder Borsten gefertigt, bestehen sie heute aus Metall, Fiberglas oder Plastik. Das Gros, an die 80 Prozent, wird aus Polyvinylchlorid (PVC) hergestellt, einem Stoff, der bekanntlich kaum verrottet. Und haben die künstlichen Weihnachtsbäume ausgedient, werden sie nicht recycelt, sondern landen in der Müllverbrennungsanlage – übrig bleibt von ihnen statt Humus u. a. Chlorwasserstoffgas (reagiert mit Wasser bzw. der Luftfeuchtigkeit zu Salzsäure), hochgiftiges Dioxin und Krebs erregendes Benz(a)pyren.
Apropos Verbrennen: Plastikbäume sind schwerer entflammbar als echte Nadelhölzer. Ein Vorteil, wenn zu Weihnachten echte Kerzen den Baum zieren: Verschmoren sie einen Zweig, wird nicht von jetzt auf gleich der ganze Baum zur Fackel. Plastikbäume bieten außerdem was fürs Auge: Sie sind kerzengerade „gewachsen“, manche tragen sogar Tannenzapfen und sehen täuschend echt aus, fühlen sich lediglich „plastik“ an. Nicht jedermanns Sache ist, dass man den würzigen Tannenduft entbehren muss. Dafür harzt der künstliche Weihnachtsbaum nicht und kann Allergikern nichts anhaben. Obendrein ist er gegen Schädlingsbefall gefeit, während das Original von der Sitkalaus heimgesucht wird, insbesondere Blaufichten und verschiedene Tannenarten.
Auch sonst erspart der Plastikbaum tierische Überraschungen, weil niemand in seinem Geäst überwintert. Kein Witz: Kirsten Coulson aus Wootton Bassett westlich von London erlebte zum Weihnachtsfest des Jahres 2000 eine schöne Bescherung, als sie beim Griff in den (echten!) Tannenbaum von zwei jungen Kreuzottern gebissen wurde, die hier Winterschlaf hielten. „In Zukunft kommt mir nur noch ein Plastikweihnachtsbaum ins Haus“, schwor sich die 30-jährige Britin.
Die Anschaffung geht erst mal ins Geld, amortisiert sich jedoch mit den Jahren. Eine zwei Meter hohe Kunststofftanne kostet gut und gern um die 200 Euro, Metallständer inklusive. Kleinere Exemplare sind bereits ab 59 Euro aufwärts erhältlich (Preisangaben ohne Gewähr). Auspacken, aufklappen und das Ganze noch ein wenig zurechtzupfen – schon ist der Weihnachtsbaum aufgebaut! Wer auch das Baumschmücken lästig findet, erwirbt gleich einen fertig dekorierten Kunstbaum, komplett mit Lichterkette, Kugeln und Schleifen. Es gibt sogar Exemplare mit Kunstschnee auf den Zweigen. Der schmilzt auch dann nicht weg, wenn man den Heiligabend mit Klapptanne an der Costa del Sol oder an der Copacabana verbringt. Weihnachten bei 30 Grad im Schatten ist allerdings gewöhnungsbedürftig und lässt ganz neue Weihnachtslieder aufkommen: „I’m dreaming of a cold Christmas“ oder „Leise fließet der Schweiß“ ... (Guido Deußing)