Ende April 1938 war es schließlich so weit: Mark schnallte Skiausrüstung aufs Dach seines Autos, so, als ginge es in den Urlaub, befestigte ein Hakenkreuzfähnchen am Kühler, ließ Ehefrau Mimi, die beiden Söhne Hans (geb. 1929) und Peter (1931-1979) sowie seine jüdische Nichte, die Pianistin und Cembalistin Greta Kraus (1907-1998), einsteigen – und verließ Wien Richtung Zürich, wo die Familie am nächsten Tag eintraf, ohne unterwegs behelligt worden zu sein. Von der Schweiz aus ging es zielstrebig weiter über Frankreich nach England, wo das Quintett schließlich in Manchester einen mehrmonatigen Zwischenstopp einlegte. Zeit, die sinnvoll genutzt wurde, um sich auf Kanada vorzubereiten, insbesondere die Englischkenntnisse zu verbessern. Hermann Mark hielt sich außerdem zeitweilig am Shirley Institute in Didsbury bei Manchester auf, das die britische Baumwollindustrie 1920 zu Forschungszwecken eingerichtet hatte, und beschäftigte sich dort mit Kunstfasern. Nach Kanada begab er sich zunächst alleine, schiffte sich Mitte September in Liverpool an Bord der „Duchess of Richmond“ ein, die am 26. des Monats im Hafen von Montreal anlegte. Während der Atlantikpassage fand er die nötige Muße, an einer Vorlesung über Cellulose zu feilen, die er in Montreal an der McGill University halten sollte. Professor Harold Hibbert (1877-1945) hatte Mark dazu eingeladen – und dieser liebäugelte bereits mit einem Neuanfang als Universitätsprofessor, sobald sein Job in Hawkesbury erfolgreich hinter ihm lag (Mark 1993, 86).
Ob in Deutschland, Österreich oder jetzt in Amerika, charakteristisch für Mark war und blieb zeitlebens das Bestreben, Brücken zwischen universitärer und industrieller Forschung zu schlagen, um zu technisch verwertbaren Produkten zu gelangen. In seinem ins Deutsche übersetzten Spätwerk „Riesenmoleküle“ erinnert er sich an seine Zeit in Ludwigshafen:
„Im Jahre 1927 warb der riesige I. G. Farbenkonzern einen Stab von mehr als 20 Wissenschaftlern (unter ihnen Herman F. Mark, der Autor dieses Buches) für ein Laboratorium an, in dem die Hochpolymere erforscht werden sollten. Die Erfolge dieser Gruppe waren beinahe sensationell; sie entwickelten eine solide theoretische Grundlage für den Aufbau von Makromolekülen und eine praktische Anleitung für ihre Synthese. Die Chemiker des I. G. Farbenkonzerns verfeinerten die ursprünglichen qualitativen Vorstellungen vom Aufbau der Polymere, so daß sie mit Bleistift und Papier die einzelnen Schritte planen konnten, die zur Entwicklung neuer Makromoleküle aus einer großen Menge von Ausgangsstoffen führten. Dies hatte zur Folge, daß das Team eine Fülle neuer Polymere im Laboratorium herzustellen begann, von denen viele sich in der Folgezeit als äußerst wertvoll erwiesen haben. Das erste der neuen Polymere, das ein wirtschaftlicher Erfolg zu werden versprach, war Polystyrol, das die I. G. Farbenindustrie 1929 fabrikmäßig herzustellen begann. [...] In der Zeit zwischen 1929 [...] und 1932 entwickelte die Gruppe synthetische Polymere mit einer Geschwindigkeit von etwa einem neuen Produkt pro Tag. Natürlich waren nicht alle brauchbar, einige aber waren von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Zu dieser gehörten die ersten Polyacryl-Verbindungen, von denen einige später zur Herstellung vorzüglicher Stoffe – wie Orlon und Acrilan – [...] verwendet wurden.“ (Mark 1970, 103-104)
Dabei betonte Mark stets, unabdingbare Voraussetzung einer, wie es oben hieß, planvollen Entwicklung neuer Hochpolymerer sei der Erkenntnisfortschritt in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung. Erst gesichertes Wissen über jene „Gesetzmäßigkeiten [...], die den Zusammenhang zwischen (molekularem, Red.) Aufbau und (physikalischen, Red.) Eigenschaften beherrschen“, ermögliche es, „Werkstoffe von ganz bestimmten Qualitäten zielbewußt zu erzeugen“ (Mark 1938, 363), wofür sich der Begriff „molecular engineering“ einbürgerte (Anonymous 1980, 277):
„Man weiß heute z. B., daß die Elastizität einer hochpolymeren Substanz damit zusammenhängt, daß sie aus biegsamen, kettenförmigen Molekülen besteht und mit steigender Länge der Ketten zunimmt; man hat erkannt, daß die Zerreißfestigkeit und die Widerstandsfähigkeit gegen Abreibung ebenfalls durch die Länge der Kettenmoleküle bedingt ist, sowie dadurch, daß sich zwischen den einzelnen Ketten Querverbindungen herstellen lassen, welche das ganze Molekulargefüge verfestigen und versteifen. Die Quellbarkeit einer hochpolymeren Substanz in Wasser oder Öl wird durch die Anwesenheit bestimmter Atomgruppen (OH, CH3 usw.) begünstigt, durch ihre Abwesenheit sowie durch eine enge Vernetzung der Ketten untereinander hintangehalten. Das elektrische Isoliervermögen erreicht besonders hohe Werte, wenn der Kunststoff nur aus C- und H-Atomen besteht, die Wärmebeständigkeit wiederum ist durch starke gegenseitige Quer- und Ringbindungen zu erreichen. [...] Wenn man also etwa vor der Aufgabe steht, eine für die Konstruktion [...] von Autoreifen möglichst geeignete Substanz herzustellen, dann wird man nicht mehr ängstlich den natürlichen Kautschuk in all seinen Eigenschaften nachzuahmen versuchen, sondern man wird zunächst jene Eigenschaften (Abreibefestigkeit, Alterungsbeständigkeit etc., Red.) herstellen, die der neue Werkstoff auf Grund seiner ins Auge gefaßten Verwendung in besonderem Maße haben soll [...], wobei es gleichgültig sein kann, wenn ihm andere Qualitäten des Naturkautschuks in geringerem Grade zukommen als diesem selbst.“ (Mark 1938, 362-364)
Universitäre und industrielle Forschung konnten voneinander profitieren, wenn sie unter das Primat wissenschaftlicher Erkenntnis gestellt waren. Und so brachte Mark nicht nur firmeneigene Forschungsabteilungen in Ludwigshafen (BASF), Hawkesbury (CIP) und anderswo auf Kurs, er etablierte die physikochemische Hochpolymerforschung auch an Universitäten und krönte damit seine akademische Laufbahn. Diese hatte während des Ersten Weltkrieges begonnen, als der Soldat Mark während eines Genesungsurlaubes infolge einer Kriegsverletzung sich an der Universität Wien für Chemie und Physik einschrieb: „Das war in einem zu studieren.“ (Kreuzer 1982, 43) Im Juli 1921 promovierte er bei Wilhelm Schlenk (1879-1943) „summa cum laude“ zum Dr. phil. – das Fach Chemie war damals an der Philosophischen Fakultät angesiedelt. Der Titel der Doktorarbeit lautete: „Das Pentaphenylethyl und über eine neue Darstellungsmethode von katalytisch wirksamem Nickel“. Im Zentrum stand das freie Pentaphenylmethylradikal mit dreiwertigem Kohlenstoff (Mark und Schlenk 1921). Mark 1993, 15 erinnerte sich augenzwinkernd: „The concept of ‚free radicals‘ was not known in 1920 – well, perhaps in politics, but not in chemistry.“ Als Schlenk im Jahr 1921 als Nachfolger von Chemienobelpreisträger Emil Fischer (1852-1919) an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen wurde, folgte Mark seinem Lehrer und wurde Assistent am Chemischen Institut.