Fly me to the moon: wie Hochleistungskunststoffe zum Strahlenschutz im Weltraum beitragen

Im Experiment MARE sollen Kunststoff-Phantome Aufschluss über die Risiken der Weltraumstrahlung für den Menschen geben

Exklusiv für K-MAG

Die Crew der Artemis-1-Mission zum Mond. Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

26/07/2022

Aktualisiert am 08.05.2024: Wir haben diesen Artikel überarbeitet, um die neuesten Entwicklungen einzubeziehen und die aktuellsten Informationen bereitzustellen.

Wenn es um die Verwendung von Kunststoffen im Weltraum geht, denken Sie vermutlich zuerst an Raumanzüge oder Leichtbauwerkstoffe und -bauteile. Es gibt aber noch ein weiteres Einsatzgebiet: Strahlenschutz. Die Weltraumstrahlung ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko für den Menschen. Im Experiment MARE soll dieses Risiko bestimmt werden, um Schutzmaßnahmen für künftige Raumflüge zu entwickeln.

Wussten Sie, dass die amerikanische Flagge, die Neil Armstrong und Buzz Aldrin am 21. Juli 1969 in die Oberfläche des Mondes steckten, aus Nylon bestand? Auch die Raumanzüge der beiden Astronauten waren mit Kunststoff gefüttert. Seit jenem historischen Tag haben spezielle Raumfahrtmaterialien und Kunststoffe im Weltraum immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bauteile aus Hightech-Kunststoffen halten extremen Temperaturen stand und sind zudem leichter als andere Materialien. Für die Beschichtung von Solarzellen zur Energieversorgung von Satelliten kommen flexible Kunststofffolien zum Einsatz. Und als Schaum können sie Schall absorbieren und in Raketen empfindliche elektronische Systeme schützen.

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Kunststoffe auf Mission im Weltraum

Kunststoffe spielen aber auch eine entscheidende Rolle im Strahlenschutz. Die Strahlung im Weltraum birgt vor allem bei Langzeitaufenthalten ein hohes gesundheitliches Risiko für Astronautinnen und Astronauten.

Das ist auch Thema im Experiment MARE (Matroshka AstroRad Radiation Experiment). Das wird vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit weiteren Partnern – darunter die NASA und die Israel Space Agency – durchgeführt.

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Das Experiment MARE fand im Dezember 2022 statt im Rahmen der Artemis 1-Mission der NASA, einem unbemannten Flug des Raumschiffs Orion. Das Raumschiff konnte in einen hohen Mondorbit eintreten, mehrmals den Mond umrunden und wieder zur Erde zurückkehren. Die Mission lieferte wichtige Erkenntnisse für den ersten bemannten Flug. Artemis 2 ist für September 2025 geplant.

Worum es in dem Experiment geht und was Kunststoffe damit zu tun haben, hat uns Dr. Thomas Berger erklärt. Er ist Strahlenexperte und Leiter der Arbeitsgruppe Biophysik am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR:

Bild: Helga; Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Phantom aus Kunststoff. Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Normalerweise werden solche Phantome in der Krebstherapie zur Bestrahlungsplanung eingesetzt. Die darin verbauten Kunststoffe sind dem menschlichen Gewebe nachempfunden, sodass die Wechselwirkung der Strahlung mit diesen Kunststoffen der Wechselwirkung der Strahlung mit dem menschlichen Gewebe entspricht. Von dieser irdischen Anwendung inspiriert, kommen die Phantome nun auch im Weltraum zum Einsatz, um dort bei der Bestimmung der auf den Menschen einwirkenden Strahlung zu helfen. Darauf basierend können dann entsprechende Schutzmaßnahmen entwickelt werden.

Schicht für Schicht: Aufbau der Phantome

Die Phantome bestehen aus unterschiedlichen Epoxidharzen, die mit Additiven befüllt sind. So kann die unterschiedliche Dichte von Organen, Knochen und Gewebe simuliert werden. Der Kunststoff im Phantom muss an der Stelle der Lunge genau der Dichte der realen Lunge im menschlichen Körper entsprechen.

Wie die Phantome genau aufgebaut sind, hat uns Dr. Berger erläutert:

Ganze 1.400 solcher Messpunkte gibt es pro Phantom. Diese werden mit kleinen passiven, aus Kristallen bestehenden Strahlungsdetektoren bestückt. Die Sensoren der aktiven Detektoren werden außerdem an den strahlenempfindlichsten Stellen des weiblichen Körpers integriert: Lunge, Magen, Gebärmutter und Knochenmark. Die Detektoren ermöglichen es, ein dreidimensionales Bild der Strahlungsverteilung im (weiblichen) Körper beziehungsweise Phantom zu generieren. Damit kann erstmals gemessen werden, welche Strahlung auf Astronautinnen und Astronauten bei einem Flug zum Mond einwirkt – und das mit einer großen Genauigkeit.

Helga in Einzelteilen. Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Helgas Aufbau. Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Bis 2020 wurden weltweit 566 Menschen in den Weltraum geschickt – nur 65 davon waren Frauen. Auf dem Mond war bislang keine einzige. Das soll und wird sich in Zukunft ändern. Doch bisherige Experimente zur Weltraumstrahlung konzentrierten sich hauptsächlich auf Männer. Dabei haben Frauen durch ihre höhere Brust- und Lungenkrebsinzidenz ein größeres Risiko. Das DLR hat sich daher im Rahmen des Experiments MARE bewusst für weibliche Phantome entschieden.

Komfortabler Strahlenschutz dank Kunststoff

Bild: Strahlenschutzweste "AstroRad"; Copyright: StemRad

Neu entwickelte Strahlenschutzweste "AstroRad", mit der Zohar während des Experiments ausgestattet wird. Copyright: StemRad

Die beiden 95 Zentimeter großen Phantome tragen die Namen Helga und Zohar. Sie sind quasi Zwillinge – mit einem einzigen, aber entscheidenden Unterschied: Zohar wird während des Flugs die neu entwickelte Strahlenschutzweste "AstroRad" des israelischen Partners StemRad tragen. Helga wird ohne Schutzweste fliegen. Ihre Daten werden dazu dienen, die Wirksamkeit der neuen Strahlenschutzweste zu bestimmen.

Auch an dieser Stelle spielt Kunststoff eine tragende – und schützende – Rolle: "Die Weste besteht aus einem patentrechtlich geschützten Kunststoff mit unterschiedlicher Dicke um den Körper herum, um die körpereigene Selbstabschirmung zu ergänzen und einen selektiven Schutz der strahlungsempfindlichsten Organe und Regionen mit hoher Stammzellkonzentration zu bieten. Dieser Ansatz bietet die größte biologische Schutzwirkung bei geringstem Gewicht – ein wichtiger Aspekt für jedes Objekt, das in den Weltraum gebracht wird", verrät uns Dr. Oren Milstein, CEO und Chief Scientific Officer von StemRad, im Interview. "Funktionell sind die einzelnen soliden Abschirmelemente in einer schuppenartigen, sechseckigen Architektur organisiert, um den Astronautinnen und Astronauten beim Tragen des AstroRad eine ungehinderte, komfortable Bewegung zu ermöglichen."

Geringes Gewicht und hoher Tragekomfort – diese Eigenschaften von Kunststoff kennen wir bereits von unserer Sportbekleidung. Er eignet sich aber auch ganz besonders gut für den Strahlenschutz.

AstroRad ProtectiveCore. Copyright: StemRad

Warum das so ist, erklärt Milstein so: "Wenn hochenergetische kosmische Strahlung, die hauptsächlich aus Protonen und anderen positiv geladenen Teilchen besteht, auf ein Abschirmungsmaterial trifft, wird sie durch die Wechselwirkung mit den Elektronen des Materials verlangsamt und schließlich aufgehalten. Daher muss ein gutes Material zur Abschirmung von Weltraumstrahlung eine hohe Konzentration von Elektronen aufweisen. Wasserstoff ist das effizienteste Material für die Abschirmung von Strahlung, da er fast doppelt so viele Elektronen pro Masseneinheit hat wie jedes andere Element. Kohlenwasserstoff-Polymere mit hoher Dichte sind die perfekte Kombination aus leichten, festen Materialien mit einem hohen Anteil an Wasserstoff."

So sieht es aus, wenn Schicht für Schicht das Phantom Zohar entsteht:

Bis zum Mond und zurück: Materialien auf Raumfahrt auf der Artemis 1

Und wie geht es jetzt weiter? Dr. Berger ist zuversichtlich:

Helga und Zohar sind bereit zum Transport. Copyright: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Insgesamt dauerte die Artemis 1-Mission rund 25 Tage. Das Orion-Raumschiff flog mehrmals um den Mond herum und kehrt dann wieder zur Erde zurück. Anschließend erhielt das Projektteam rund um Dr. Berger die beiden Phantome zurück, um mit der Auswertung der Daten zu beginnen. So können Kunststoffe auf doppelte Weise einen wertvollen Beitrag zum Strahlenschutz im Weltraum leisten.